7.03.2013

Noch einmal das verfolgte Chrästentum

Es bleibt dabei: das Christentum, von Vorigem wohl zu unterscheiden, wurde vom römischen Staat aus dem Grunde verfolgt, dass es die Verehrung des kaiserlichen Genius und den Vollzug der Staatsreligion ablehnte. Diese Ablehnung bedeutete nach der Auffassung der damaligen Zeit Hochverrat, denn nicht der lebende Kaiser war Objekt des Kultes, vielmehr war es die Idee eines gefestigten Staates unter der von den Göttern gewollten Leitung des jeweiligen Kaisers  – verehrt wurde also sozusagen das Kaiser – tum.

Eine Verfolgung der Chrästen hingegen ist nur zu konstruieren, wenn man statt der Philosophie die synkretistische Religion Gnosis im Auge hat, die ihre Verquickung mit dem Christentum nicht abstreiten kann. Sie bildete Gemeinden und Hierarchien aus, feierte Gottesdienste und kannte sakramentale Handlungen. Die Beziehungen zwischen dem Gnostizismus und dem Christentum waren und sind sehr eng und beziehen sich nicht nur auf die Bindung an die Person Jesus, vielmehr gibt die Philosophie der Chrästen selbst eine religiöse Deutung her. Es ist, wie schon andernorts bemerkt, leicht, aus der Orientierung auf den „Vater“ in den Verborgenen Worten, der Basisschrift chrästischer Philosophie, eine Religion zu entwickeln, verheißt doch dieses selbst, man werde unter bestimmten Bedingungen „den Vater schauen“. Diese mythische Vaterfigur rückte im Gnostizismus in den Mittelpunkt kultischer Verehrung und wurde mit diversen eschatologischen Systemen umschrieben. Von dieser Religion zur Philosophie vorzustoßen ist nahezu unmöglich – der Unterschied beider wird nur dem offenbar, der das existenzielle Ziel der Philosophie für sich realisiert hat. Aus der Basisschrift selbst ist es nicht zu erschließen. Sie entrollt ein schwer erkennbares Panorama, das um das zentrale Erlebnis kreist, es aber eindeutig religiös definiert. Entsprechend gespalten war dann die Entwicklung eines Programms, das, verstanden, das Ende jedweder Religiosität bedeutet, so aber schlechtweg nicht verstanden werden kann. Es verschweigt die wirkliche Absicht nicht – aber es verhüllt sie, indem sie auf eine metaphysische Allvatergestalt hin orientiert und zudem den Stifter der Lehre, Jesus, selbst mit einem Gottesbegriff zusammenbringt, der dem des Alten Testaments entspricht.

Dennoch ist dies natürlich kein Grund gewesen, die Chrästen zu verfolgen, denn Religionen waren im römischen Reich mit Ausnahme des Staatskults die private Angelegenheit eines Jeden; es war dem Staat nicht erlaubt, hier einzugreifen, wenn nicht elementare Begriffe des Staatswohls verletzt wurden. Dies ist  in der chrästischen Philosophie ebenso wenig gegeben wie es in einer davon inspirierten Religion gegeben war. Während aber die reine Philosophie als legitime Nachfolgerin von Platonismus und Stoa in den gebildeten Kreisen hohe Achtung genoss, war dies bei der Religion ganz und gar nicht der Fall. Bedingt durch ihren Bezug auf Jesus wurde sie mit den Annahmen zusammen gesehen, die man im Hinblick auf die Christen hatte und so wurde mit der Ablehnung des Kaiserkultes und der Staatsreligion durch die Christen auch die chrästische Religion, die wir als Gnosis kennen gelernt haben, identifiziert  und folgerichtig mit den Christen zusammen verfolgt. Dazu kam noch eine quasi private Verfolgung der gnostischen Religion durch die Christen, von der das Neue Testament vielfach Zeugnis ablegt und von der auch die frühen Kirchenväter viel berichten und in ihren Apologien dazu anhalten, denn die gnostische Religion wurde dem Christentum gefährlich, weil sie antrat, einzulösen, was jene nur für eine Welt jenseits des Todes versprachen und so immer wieder Christen ihrer Religion entfremdete. Wohl gemerkt, es geht hier nur um den Austausch einer Religion gegen eine andere, es geht nicht um das Bekenntnis zu einer philosophischen Hairesis, die außerhalb jeder Kritik stand und jedem gebildeten Römer bekannt war, ob er sich ihr nun anschloss oder nicht. Denn es stand außer Frage, dass diese Philosophie ihre Nützlichkeit und Brauchbarkeit jederzeit nachweisen konnte und – ihre Anhänger passten sich ohne Skrupel den kulturellen Erfordernissen an wie sie von jedem römischen Einwohner – nicht nur Bürger – erwartet wurden.

Indessen erscheint es wahrscheinlich, dass aufgrund der humanistischen Grundausrichtung der chrästischen Philosophie es zu Sympathien für eine seit den Tagen der Gracchen bekannte suspekte Sozialphilosophie gekommen sein kann. Diese Philosophie war im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung aufgetaucht und wird allgemein mit dem Namen des Stoikers Blossius von Cumae in Verbindung gebracht. Sie spielte in den Sklavenaufständen des zweiten und beginnenden ersten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung eine bedeutende Rolle. Nach dem Scheitern der gracchischen Reformen ging Blossius nach Kleinasien und soll dort, wie Jambulos berichtet, versucht haben, seine Gesellschaftsutopie im Staat des Andronikos zu realisieren. Auch diese Unternehmung scheiterte, Rom übernahm das Fürstentum als Erbe von Attalos III und besiegte Aristonikos, den Gönner des Blossius nach schweren Kämpfen. Die „Sonnenstaatler“ machten es den Römern nicht leicht. Seither aber geisterte das Gespenst einer präkommunistischen Sozialethik durch die Ideenwelt des römischen Reiches und die römische Philosophie nennt Blossius umso weniger, je mehr Furcht sie vor seinen Ideen hat.

Es ist nun nicht zu leugnen, dass die chrästische Philosophie ebenfalls sozialethische Aspekte enthält. Das ergibt sich aus der schlichten Tatsache, dass für sie und vor ihr alle Menschen grundsätzlich gleich sind. Allerdings leitet sie selbst aus dieser Einsicht keinerlei politische Verpflichtungen ab – die chrästische Philosophie ist Existenzphilosophie, keine Ideologie einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sie kann daher in jedem bestehenden oder künftigen Gesellschaftsmodell bestehen und betrieben werden. Andererseits unterstützt sie bestehende Ungleichgewichte in der gesellschaftlichen Architektur aber auch nicht, sie hat vielmehr kein Interesse an solcher Parteinahme und überlässt es dem Individuum, welche Folgerungen es aus der Erkenntnis des Selbst für sich zu ziehen gedenkt.  Vorsicht bei der vorgeblichen Bevorzugung der Armen – ökonomische Armut ist hier nicht gemeint, sondern Freiheit den materiellen Bedürfnissen gegenüber. Man soll sich nicht von ihnen versklaven lassen. Aber natürlich konnte dieses Anliegen auch in sozialer Stoßrichtung verstanden werden, dann bot es eine metaphysische Rechtfertigung für revolutionäre Aktionen. Gewiss wurde ihr Anliegen in einem solchen Fall gründlich missverstanden, aber wie im Falle des „Vaters“ ist sie eben vor derartigen Missverständnissen nicht geschützt.

So ist es erklärlich – und NUR so ist es erklärlich, dass die chrästische Philosophie hier und dort in den Focus römischer Behörden geriet. Anhänger mögen sich hier und da an regionalen oder lokalen Aufständen beteiligt haben, was dann wieder christliche Apologeten dazu ausgenutzt haben, die angebliche Staatsfeindlichkeit der Chrästen anzumerken – aber es hat niemals zu einer systematischen Verfolgung derselben gereicht, während die Verweigerung des Opfers an den kaiserlichen Genius in den Augen Aller Hochverrat war und den begingen die Christen nun einmal, das war nicht zu bestreiten. Ferner gab es christliche Gemeinden, insbesondere im zweiten und dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, die sich mit Elementen chrästischer Philosophie schmückten, meist um Gebildete in ihre Reihen zu ziehen. Die Nachrichten über die Verfolgung solcher Gruppen können dann durchaus Christen gemeint haben, die aber aus der Ferne nicht mehr als solche kenntlich waren. Chrästische Kreise indessen fand man eher in den höheren Etagen der Gesellschaft, in den Familien der beiden Adelsklassen so gut wie im gehobenen Bürgertum und in der Beamtenschaft.

Symbolisches Flaggschiff der chrästischen Philosophie war die ägyptische Hieroglyphe „Ankh“ in ihrer Bedeutung „ewiges Leben“. Der Mensch hatte per se an diesem Leben teil, er war dabei nicht etwa wie im Christentum ein Belohnter, sondern unabhängig von seinem Wissen respektive Nichtwissen war der Mensch im absoluten Dasein unendlich existent. An der Vielzahl der Anch – Zeichen mit denen gebildete Römer ihre Häuser und ihr Gerät verzierten, kann man in etwa die Verbreitung chrästischer Philosophie ablesen: sie hatte im gesamten Reich Anhänger. Selbst der Kaiser bekannte sich zu diesem Wahrzeichen und flocht es diskret in die Staatsymbolik ein, denn es galt als unfein und indiskret, die philosophische Privatmeinung zum Staatsakt zu erklären. Aber kein Stoiker und kein Platoniker hat jemals seine Behausung so intensiv mit Hinweisen auf seine philosophische Haltung verziert, wie das die Chrästen taten – bis zur wahrhaften Darstellung einer chrästischen Unterweisung in der Villa dei Misteri in Pompeji (zu einer Zeit, als es nach heutiger offizieller Lesart noch gar keine chrästische Philosophie hätte geben dürfen) und vielleicht auch im augusteischen Bildprogramm der Basilica Sotteranea (ehemals) bei Rom. Jedenfalls ähneln sich einige Bildtypen in beiden Programmen erheblich. Nun wird hier von angeblicher Tarnung gesprochen. Es war solche zu keiner Zeit notwendig, aber es war auch nicht notwendig, öffentliches Zeugnis für die eigene Überzeugung zu geben, indem man den Privatraum mit hinweisenden Zeichen versah. Also flocht man diese bekenntnishaften Kennzeichen unauffällig in die gängige Dekoration ein, das mochte dann als elegante Anspielung hingehen.

Soweit die Angehörigen der Oberschichten. Aber die chrästische Philosophie war nicht nur unter ihnen verbreitet, sondern hatte das, was man eine Massenbasis nennt, auch Angehöriger der Mittelschicht und sogar Sklaven waren ihre Anhänger, denn sie fragte nicht nach den sozialen Umständen eines Menschen. Diese Menschen bauten sich keine Villen, sie ritzten ihre Anliegen in Hauswände oder schrieben sie als Graffiti auf Wände und Türstürze und der größte Luxus war die Ausgestaltung eines eigenen Grabes für sich selbst und für Angehörige. Oft wurde ein Bestattungsverein damit beauftragt und der kümmerte sich dann, wie heute eine Sterbeversicherung, aber sicher redlicher als diese, um alles nur: viel Geld hatten die oft nicht und so bewegt sich das Niveau der Ausstattung meist am Rande des Schicklichen. Immerhin – wenn eine Grabschrift verfasst wurde, enthielt sie das, was zur Identifizierung des Toten für notwendig erachtet wurde – mindestens das – und noch einige Dinge mehr, falls denn das Geld ausreichte. So finden wir auf vielen Grabsteinen bekenntnishafte Formulierungen, wobei sich christliche und chrästische Begrifflichkeiten immer mehr vermischen ohne dass eine Tarnungsabsicht bestanden hätte – die Vermischung war ein Produkt der Annährung manch „gnostischer“ und christlicher Gemeinden der späteren Zeit.

Von 390 unserer Zeitrechnung an aber beginnt gemach eine andere Zeit, in der, was chrästische Philosophie war, nach und nach zu einem Christentum okkultistischer Prägung verkommt – der Keim zu einer Religion war der chrästischen Philosophie ja schon von ihrem Anfang an in die Wiege gelegt worden, die überragende Gestalt des Lehrers kam als „Messias“ oder latinisiert als „Christus“ hinzu. Dennoch führte dies, wie schon bemerkt, nicht zu einer radikalen Verfolgung  – die manichäische Kirche, die definitiv eine Kirche war, bestand noch eine gute Weile neben der christlichen fort und das nicht einmal besonders verborgen. In der manichäischen Kirche aber lebten Grundzüge der chrästischen Philosophie fort, im Westen allerdings klarer als im mehr mystisch – mythologisch orientierten Osten des Reiches. Der Umstand, dass die christliche Religion zur Staatsreligion erhoben wurde, verbot ja nicht die übrigen Religionen. Sie wurden nun reine Privatsache, die christliche Kirche hatte viel zu viel mit sich selber zu tun, ich erinnere an die vielfachen dogmatischen Streitigkeiten dieser Zeit und an die Spaltungen. die daraus hervorgingen. Aber nun hatte man wohl ein wachsameres Auge auf heterodoxe Bewegungen und war auch bereit, den Glauben mit den Waffen der Justiz zu verteidigen. Aber es ist bemerkenswert, dass sich die polemische Auseinandersetzung mit den Resten der chrästischen Philosophie nicht etwa abschwächt, sondern verschärft, sie wird immer unsachlicher, immer weniger argumentativ, immer autoritärer und auch schematischer, Verleumdungen, die einst den Christen galten, tauchen wieder auf und meinen nun die Chrästen, die Gnostiker genannt werden. Dennoch – in dieser Zeit ist die Anzahl der visuellen Demonstrationen überwältigend und erfasst auch den öffentlichen Raum, nämlich die Kirchen, die im Übrigen auch so etwas wie Kontaktbörsen waren – eine Sitte, die sich bis ins Mittelalter hinein hielt. In vielen Kirchen befinden sich die chrästischen Demonstrationen an prominenter Stelle, im Altarraum, an den Chorschranken, an Bischofsstühlen und in Baptisterien oder im Scheitel der Kuppelwölbungen. Sie waren überall und nicht einmal besonders tief abgetaucht – was sie aber lehrten, glich dem, was Jesus sie gelehrt hatte, bei weitem nicht  mehr – nur in Gallien respektive dann in Franken hielt sich die chrästische Philosophie noch relativ unverdorben, allerdings gab sie sich, als Philosophie, auch nicht in Kirchenräumen zu erkennen. Sie musste es nicht tun – wer mit Chrästen zu tun haben wollte, wusste allgemein wo man sie fand, nämlich in ihren Konventen. Erst im zwölften und dann im dreizehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung kam es zur definitiven Verfolgung, nachdem ein fremder, aggressiver Geist im Wesen der Philosophie eingezogen war, und damit ein Vorwand, endlich gegen die unbezwingbare Ketzerei einzuschreiten. Aber das geschah erst, nachdem die Philosophie dort tausend Jahre lang geherrscht – und die Christen geduldet – hatte.

 

 

Hinterlasse einen Kommentar

Dein Kommentar:

Kategorien