23.08.2012

Sergius Paulus – Rekonstruktion eines Verlorenen

 

  1. Zypern

 

Zypern ist eine der großen Inseln in der Ägäis, also im östlichen Mittelmeer. Sie liegt im Schnittpunkt großer Kulturen: der griechischen, der phönizischen, ägyptischen, einst auch der hethitischen und minoischen. Ihr gegenüber liegt Kleinasien, aber auch die Levanteküste mit Israel. Sie wurde schon früh besiedelt und da sie sehr fruchtbar ist und alles Lebensnotwendige sich auf der Insel selbst finden lässt, führten ihre Einwohner keine Kriege, sondern versuchten, durch Handel die Begehrlichkeiten ihrer überseeischen Nachbarn zu stillen und so den Frieden zu bewahren – was den Zyprioten denn auch weitestgehend gelang. Erst unter Alexander, der den gesamten Osten unterwarf, kommt auch Zypern, schon lange im Einflussgebiet der Hellenen, aber auch, als Handelsnation, vielen anderen Einflüssen ausgesetzt, zu Großgriechenland um wenig später aber bereits wieder eine eigene Politik zu machen und mal den Seleukiden, mal den Ptolemäern schön zu tun und im Grunde mit keinem von ihnen wirklich zu tun zu haben… bis die Römer kommen und auf Zypern Fuß fassen, das ist als sie im Zuge des Ägyptenfeldzuges des Octavian auch Zypern besetzten und nun gaben sie es nicht mehr frei. Bis 22 unserer Zeitrechnung war es proprätorische, dann prokonsularische Provinz, stieg also in seiner Wichtigkeit auf, was seinem wirtschaftlichen Leistungsvermögen entsprach. Zypern gehörte zu den Provinzen, die an Bedeutung wettmachten, was ihnen an Ausdehnung fehlte und der Job eines Gouverneurs von Zypern bedeutete, gute Tage zu haben und sich mit einer weltoffenen und ökonomisch geschulten Bevölkerung nicht allzu viel Arbeit machen zu müssen.

 

  1. Paulus

 

Paulus, der Prokonsul von Zypern in den Tagen, aus denen wir berichten wollen, gehört der Gens Sergius an und führt so in jene Tage zurück, in denen Rom unter dem Einfluss der Etrusker stand. Der Prokonsul führt das Cognomen Paulus, der Kleine im Sinne von der Jüngere, was zu Verwechslungen mit einer Herkunft aus der Familie der Paulier aus der Gens Aemilia führen könnte, aber da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, der Name und das Amt des Sergius Paulus auf Zypern sind amtlich bestätigt. Möglicherweise hatte er noch ältere Brüder, möglicherweise auch geht dies Cognomen auf Familientraditionen zurück, wie bei uns die Benennung nach den Großvätern bzw. Großmüttern. Sergius Paulus residiert in Paphos, dem Hauptort der Insel, in einem behaglichen griechischen Ambiente mit viel Luft, Licht und Eleganz. Wenn es ihm auf seiner Insel langweilig wird, lässt er Segel setzen und fährt hinüber ins strahlende Alexandria mit seiner gehobenen Gastlichkeit, seinem akademischen Glanz und, nicht zu vergessen, den Freuden eines ausgedehnten Nachtlebens in Kanopus.

 

Irgendwo da in Alexandria lernt er ihn dann kennen, den alten Mann, der ihm von einem Kollegen empfohlen wird und erst ist er unwirsch, was soll’s, ein Jude. Na na, meint der Kollege, erst mal anschauen… und zwar soll er schnell machen, der Mann ist schon sehr alt und niemand weiß und es wäre ein echtes Versäumnis und so weiter… aber Paulus riskiert ein Auge und ein Ohr. Es stellt sich heraus, dass der Alte sogar leidliches Griechisch spricht,  mit Alexandriner Akzent wie er es erlernt hat. Nur ab und an wenn er in Rage gerät, rutscht ihm ein aramäischer Brocken dazwischen… aber als Paulus ihn kennen lernt, gerät er noch selten in Rage. Erst als er, schon auf der Schwelle des hohen Greisenalters aber wachen Sinnes wie nur je ein Junger, von dieser Sekte erfährt, kommt es öfter zu solch engagierten Ausfällen. Er kennt den, der diese Sekte gegründet hat und nennt ihn unverhohlen einen Dummkopf und Spinner, aber so wäre er schon immer gewesen und er hätte Jesus nie verstanden, dass der ihn ums sich duldete.

 

Didymos

 

Judas, so heißt er mit seinem richtigen Namen, ist kein armer Mann. Ein Gut in Israel hat ihm den Grundstock zu einem stattlichen Vermögen gegeben und die Honorare seiner Studenten taten ein Übriges, denn seine Privatschule ist berühmt, kaum ein junger vornehmer Römer oder Grieche, der nicht wenigstens einen Kurs bei ihm belegt. Er hat Häuser in Damaskus, in Alexandria (er wohnt nicht in der Schule) und gerade trägt er sich mit dem Gedanken, einen Alterssitz in Mazedonien zu kaufen… man muss doch mal ganz aus dem Trott raus. Paulus versteht ihn gut, schließlich weiß auch er, was es bedeutet, eine Person von öffentlichem Interesse zu sein und das ist Judas ganz ohne  Zweifel, auch wenn er sich inzwischen einen Kreis von Lehrern herangezogen hat, deren einem er die Schule sogar vererben will – nein, nicht seinen leiblichen Kindern, sagt er, die taugen nicht als Gelehrte, die bearbeiten sein Gut und damit kommen sie wunderbar aus und hin. Eine Schwester hat er wohl auch  noch, aber entweder weiß er wirklich nicht, wo die steckt oder er verrät es nicht jedem, immerhin scheint auch sie eine gute Lehrerin zu sein – vielleicht fürchtet er ihre Konkurrenz, mag sein. Er ist hochgewachsen, trägt langes weißes Haar und einen Bart, das ganze Gegenteil zu seinem Lehrer, sagt man, der klein war und kraushaarig und ziemlich zappelig, während er die Ruhe weg hat, es sei denn, eine Schnurre von den Simoniten bringt ihn auf oder Alexandrias Juden wetzen wieder mal die Zungen an dem, was sie nichts angeht. Didymos nennt er sich hier,  aber seine vertrauten Freunde kennen seinen wirklichen Namen ebenso wie ihn seine Intimfeinde, die Juden, kennen.

 

Aus der Neugierde wird Interesse und aus dem Interesse wird Freundschaft, zumal Didymos den Paulus kein einziges Mal um Geld oder Pöstchen anschnorrt, weder für sich selbst, noch für einen seiner zahlreichen Freunde. Es ergibt sich, nachdem der Prokonsul einige Male bei Didymos zu Gast war, dass derselbe sich auf einige Zeit nach Paphos begibt und bei einem dieser Aufenthalte passiert es… oder ist es nie passiert, haben wir es nur mit einem Trick eines talentierten Literaten zu tun?

 

Lukas

 

Lukas lebt zur Zeit des Kaisers Hadrian und er ist Christ. Damit muss man ein wenig vorsichtig sein, weil man leicht in die falsche Schublade geschoben wird, aber Lukas ist nicht so einer, er hat einen anständigen Beruf und er ist auch kein Sklave mehr, sondern der Sohn eines Freigelassenen, wenn er wollte, könnte er römischer Bürger werden, aber er will nicht. Er ist Christ, weil ihm diese Gesellschaft aus übrigens hoch anständigen Menschen gefällt, auch wenn er ihre Einfalt manchmal nur schwer ertragen kann, der Hochmut der Philosophen ist noch schwerer zu ertragen. Woher er kommt – schwer zu sagen, denn von Hause aus spricht und schreibt er Griechisch, das Griechisch der Koine, er spricht und schreibt es gewandt, die Herkunft der Eltern ist vergessen, war es Kleinasien, war es der Donaustrand, Lukas ist ein Name, fremd und vertraut zugleich, er klingt griechisch, aber er ist es nicht, er klingt jüdisch, aber er ist es nicht, er klingt sogar ein bisschen lateinisch aber auch das ist er nicht.

Lukas gewinnt gern neue Freunde für den Kreis der gebildeten Christen, zu dem er gehört. Aber neulich ist er an seine Grenzen gestoßen ausgerechnet bei Theophilos, von dem er im Allgemeinen sehr viel hält. Der wollte wissen, was es denn alles über diesen Jesus gäbe und Lukas hat ihm einen Arm voll Schriften besorgt  – und dabei fast seinen Ruf zuschanden gemacht, denn Theophilos hat ihm das Zeug um die Ohren gehauen und gemeint, Ammenmärchen brauche er nicht, wenn er ihm, Lukas, glauben wolle, brauche er Tatsachen. Da hat sich Lukas hingesetzt und durch den ganzen Kram gewühlt und herausgefischt, was ihm brauchbar und wahr erschien – das war vor allem das, was er auch aus anderen Gemeinden kannte. Da sollte es noch zwei Bücher geben, die man nur unter der Hand von den Christen bekam und noch schwieriger von den Philosophen, denn die rückten an Fremde gar nichts raus, die hat er also beide nicht dabei, aber vielleicht reicht es auch so. Er hat alle die Kindergeschichten aussortiert, nur einen Stammbaum hat er übernommen, aber er hat ihn mit einem anderen, jüdischen, ergänzt, von den Kindergeschichten hat er nur die Geburt und was kurz vorher und nachher geschah genommen, ansonsten macht er kurzen Prozess und mit den Reden und Wundern weiter, denn wie er den Theophilos kennt geht es dem nicht um Sentimentalitäten, sondern um Aussagen und belegbare Taten. Allerdings – die Auferstehung und das Entschwinden Jesu in den Himmel, das wird er schlucken müssen. Seinem eigenen Glauben macht er Luft, indem er die großen Lobgesänge schreibt, denn so fühlt er sich wirklich: ausgezeichnet vor allen andere Menschen und so will er seinen Gott auch sehen: ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel. Der erleuchtete Heide aber – das ist er.

 

Lukas würde aber  keine saubere Arbeit machen, wenn er nicht auch erzählen würde, wie es dann weiterging, wie die Jünger auszogen in alle Welt um die Erlösung überall bekannt zu machen. Er weiß das meiste selbst nur vom Hörensagen und so entschließt er sich, die einzelnen Traditionen der Schüler abzuarbeiten – aber sehr viel Stoff, stellt er gleich fest, gibt es da nicht und die Arbeit frisst sich fest. Da waren so viele … aber wenn man sie greifen will, sind sie auf einmal weg. Philippus verschwindet, auch Jakobus, er wird umgebracht, desgleichen Stephanos, wo kam der bloß her, keiner weiß es. am meisten weiß man noch von Simon, aber sind das nicht auch nur Legenden? Na, arbeiten wir erst mal den Simon ab , denkt Lukas, aber er weiß, er muss sich nun Zeit nehmen, so leicht wie vorhin wird es nicht. Hier eine Spur, da ein Schatten – mehr ist nicht da… die Beschäftigung droht in Arbeit auszuarten zudem noch in frustrierende, denn es gibt mehr Pausen als Fortschritte.

 

Und dann  findet er das: Bericht über meine Reisen durch das Reich von einem gewissen Sergius Paulus, seines Zeichens Prokonsul von Zypern, ein hochadeliger Mann der zur Zeit des Coponius lebte… aber Jesus wurde doch unter Kaiser Tiberius gekreuzigt und Coponius, das war Augustus. Aber es ist, das hat er gleich gesehen, definitiv von Jesus die Rede, dessen Lehre er nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst überall propagiert hat. Der Mann ist mit den Größen seiner Zeit zusammen gekommen, hat alle Zentren der zivilisierten Welt besucht, nur Alexandria nicht, denn dort war Jesu Lehre bereits fest verankert, wie das, denkt Lukas und dann denkt er: das muss ich nutzen und wenn ich es links und rechts verbiege, und mein Apostel heißt Paulus – halt, da war doch im Zusammenhang mit Stephanos ein junger Jude unterwegs, der hieß Saulus und der wurde dann Christ… ein Buchstabe, ein dramaturgischer Trick, bringe die beiden zusammen und du hast deine Geschichte. Und so entsteht der Apostel Paulus. Und wie der Apostel Paulus entsteht, muss der Prokonsul verschwinden, außerdem kann man sich endlich von dem Vorwurf emanzipieren, man würde die Jesus – Geschichte fälschen, denn hier tritt ja Judas selber auf… hinweg mit ihm, denkt Lukas und das zelebriert er genüsslich. Er bringt die beiden, die sich im Leben nie sahen, zusammen, mehr noch, er macht den einen zum andern: Saulus aber, der auch Paulus heißt… und schon haben wir ihn. Der Rest ist zwar Sergius Paulus, aber das merkt keiner mehr und wo es brenzlig wird, da wird „Paulus“ große Reden halten, die so christlich und gebildet sind, dass Theophilos die Ohren klingen sollen. Ein römischer Bürger wirbt für die Christen. Einer, der mit Gouverneuren als mit seinesgleichen umgeht, der gewandt Griechisch spricht engagiert sich für Christus. Nur aufpassen muss er, denn der Paulus des Reiseberichts spricht natürlich ganz anders als sein Saulus. Aber ab und an kann er es sich doch nicht verkneifen, einen guten Satz zu übernehmen. Und so entsteht unter des Lukas Händen eine ganz neue Person, die aus Saulus von Tarsus, dem bekehrten Juden, der nie weit  aus seiner Heimatstadt hinaus gekommen ist und Sergius Paulus, dem der Erkenntnis gewonnenen ehemaligen Prokonsul von Zypern, der das ganze Reich bereist hat, montiert ist. Die Reisen sind von Paulus genommen, die Reden von Saulus und der Rest ist Legende, die sich mal an diese, mal an jene Spuren geheftet hat.

 

Die Briefe

 

Nun gibt es aber außer diesem Reisebericht noch eine Sammlung von Briefen von „Paulus, dem Apostel Jesu Christi“ an verschiedene Gemeinden in Kleinasien, Griechenland und einen sogar an eine Gemeinde in Rom. Es ist wahrscheinlich, dass Lukas von der Existenz dieser Briefe absolut nichts gewusst hat, denn er tut ihrer mit keinem Wort Erwähnung. Allein der Umstand, dass Paulus sich „Apostel Jesu Christi“ nennt, ist verräterisch und deutet auf einen Umstand, der eher zu Saulus von Tarsus als auf Sergius Paulus, den Reisenden in Sachen Erkenntnis, passt. Der Titel „Jesus Christus“ (so!)taucht nämlich erst im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung überhaupt auf, als aus dem mythisch verdunkelten Kyrios der strahlende Christus wird, der das göttliche Zentrum einer seine Person verehrenden Gemeinde geworden ist.  Wir tun gut daran, uns von der Annahme zu verabschieden, dass wir in den paulinischen Briefen das älteste Zeugnis der Christenheit vor uns hätten. Es ist bestenfalls, wie die Apostelgeschichte des Lukas, auf alt „gemacht“. Die paulinischen Briefe sind in einer Zeit entstanden, in der das Christentum nach Formen sucht und es hat Tausende Publikationen dieser Art in allen christlichen Gemeinden gegeben, denn jede einzelne suchte sich, als das Weltende nicht gekommen war, irgendwie ideologisch über Wasser zu halten. Warum ausgerechnet die Briefe des Paulus auf uns kamen? Weil ein Mensch namens Markion das Augenmerk der römischen Gemeinde gerade auf sie lenkte und dann sein eigenes Reformwerk quer durch das Reich verschickte. Viele andere Briefe, die man ebenfalls kannte, und von denen auch wir noch einige kennen, wurden damals hinter diesen Paulus, den vorher kaum jemand kannte, zurückgesetzt. Denn was Markion da ausgegraben hatte, war in der Tat beachtlich und offenbarte ein theologisches Naturtalent bester rabbinischer Schulung. Man konnte es gut annehmen – und so wurde das Christentum paulinisch – eigentlich saulinisch. Zwar gab es auch weiterhin noch theologische Grundschriften im Namen der Apostel, darunter so beachtliche Werke wie den Hebräer- oder den Epheserbrief, aber insgesamt erreichten sie doch nicht die Qualität der paulinischen. Mit Erkenntnis aber, also der Lehre Jesu, hat das alles überhaupt nichts mehr zu tun, auch wenn hier und da noch verstohlen versucht wird, Brücken dorthin zu bauen. Die Philosophie des Jesus lässt sich nicht nachträglich in ein noch so intellektuelles Christentum einbauen. Der Glaube an…. trennt beide für immer.

 

Das weitere Schicksal des Paulus

 

Paulus, und zwar der echte, kommt endlich nach Rom, wo er zuhause ist und die vom Jerusalemer Sanhedrin eingereichte Klage wegen Tempelschändung in aller Ruhe erwarten kann; er weiß, ihre Niederschlagung ist schon gewiss. Wo ein römischer Bürger auch immer seinen Fuß hinsetzt, es sei denn ins geheime Revier seiner eigenen Götter, da setzt er ihn rechtens hin, schon weil er römischer Bürger ist und zudem ist Paulus auch noch Angehöriger der Nobilität. Nachdem er sich also ausgeruht und wieder etwas Weltstadtluft geschnuppert hat – es herrscht Nero und in der Stadt ist was los, der verheerende Brand ist noch weit – und vielleicht hat er sich auch im Familienhaus am Golf von Neapel erholt, macht er sich nach Spanien auf, das als nächstes auf seiner Wegekarte steht, dann vielleicht noch nach Gallien hinein, aber nein, in Gallien, hört er, herrscht die Schwester des Didymos samt ihren Nachfolgern, eventuell wäre da noch Africa, aber das wird von Alexandria aus eigentlich mit versorgt. Ob er aber jemals dorthin gelangt ist, wissen wir nicht, weil Lukas seinen Helden nicht über Rom hinaus gelangen lässt. Er lässt das Ende offen, was es im Original sicher nicht gewesen sein wird. Wäre es irgendwie dramatisch gewesen, hätte er es sicher aufgenommen – aber das war es nicht, Sergius Paulus ist, nach Rom zurückgekehrt, wohl in Ehren alt geworden und gestorben. In der Politik hört man weiter nichts von ihm, was auch sehr klug gewesen ist, denn die Zeiten waren unruhig, der Kaiser Nero, beim Senat und bei der Nobilität alles andere als beliebt, beging, vertrieben, Selbstmord, seine unmittelbaren Nachfolger wurden ermordet und unter Vespasian wurde Jerusalem mit seinem Tempel erobert und zerstört, womit auch alles Prozessieren obsolet wurde. Und was, wenn es nicht die Zeit des Nero gewesen ist, sondern eine sehr viel frühere? Dann ist er vielleicht in die Zeit des Tiberius hinein gekommen, in der es politisch so drunter und drüber ging, dass ein kluger Mann sich besser aus der Politik heraus hielt, wenn ihm sein Leben lieb war. War er ein jüngerer Freund des Didymos, kommt diese Zeit sogar eher in Frage als die des Nero. Da, wo die Geschichte des Saulus ansetzt, nämlich in den letzten Tagen des Tiberius, endet die Geschichte des Sergius Paulus. Wo Saulus jung ist und die Kleider des Stephanus bewacht, ist Paulus alt geworden und lebt als Privatmann in Rom oder irgendwo anders in Italien. Aber unser Lukas ist nicht auf den Kopf gefallen – überall wo Paulus auftaucht, nimmt er Kontakt mit seinen Amtskollegen auf. Das waren zu seiner Zeit allerdings andere als zur Zeit des Claudius, in der die Mär vom Völkerapostel spielt und Lukas geht nicht in die Falle – es ist leicht, zu ermitteln, wer um diese Zeit welche Provinz verwaltete. Man unterschätze ihn nicht, er macht seine Arbeit sehr ordentlich, schließlich muss sie der Kritik des Theophilos standhalten. Er liest die einschlägigen Werke zur jüngeren Zeitgescnichte, allerdings versteht er sie nicht richtig. Und so wird aus der Aktion des Claudius, die im Endeffekt das jüdische Viertel in Rom begründet, eine Flucht der Juden in alle Teile des Reiches, allerdings sagt er nicht, weshalb sie aus der Stadt vertrieben werden, und das ist bedenklich, denn sie werden eines Chrestos wegen vertrieben und – was sucht ein Chrestos zu der Zeit in Rom? Der wurde doch schon unter Tiberius gekreuzigt? Dass die Juden einfach nur Schwierigkeiten mit der Gemeinschaft der Chresten bekommen haben, weiß er nicht, denn er liest hier nicht Chrestos wie es recht wäre, sondern, im Zeitalter des beginnenden Itazismus liest er „Christos“ und beschließt, die verwirrende Nachricht Suetons einfach an seine Bedürfnisse anzupassen. Er liest auch Josephus, denn er muss unbedingt etwas über ältere jüdische Geschichte der Gegenwart lesen und so kommt er auf den „Betrüger aus Ägypten“. der vom Ölberg aus Jerusalem erobern wollte und den man dann wohl gekreuzigt hat… Unbehagen mag ihn beschlichen haben, allzu genau entspricht das gewissen Zügen der Passion Jesu Christi, aber er weiß wie man verfängliche Nachrichten unschädlich macht – man nimmt ihnen den Zusammenhang. So gelingt es ihm, seinen Paulus ein halbes Jahrhundert später heimisch zu machen. Theophilos wird die Anspielungen sehen und zufrieden sein. Und Sergius Paulus? Auch er taucht in der Apostelgeschichte des Lukas auf – zwar ist es dramaturgisch nicht unbedingt nötig, dass er auftaucht, aber es könnte ja immerhin sein, dass er nicht der einzige Mensch ist, der den Reisebericht des Paulus kennt, ich meine das Original, und so ist es vielleicht besser, ihn auftauchen zu lassen, damit nicht jemand noch auf die Idee käme, Lukas habe hier lange Finger gemacht und so schürzt er einen gewaltigen Knoten: wer Paulus kennt, weiß, dass er ein Schüler des Didymos war, also taucht Didymos hier auch auf und zwar als Elymas na ja, verhört, wer kann dafür und aus dem Großen wird der Zauberer, das ist nur ein einziger Buchstabe und Lukas kennt den Dreh, mit der „gnostischen“ Vergangenheit des Simon haben sie es ebenso gemacht, die Personen werden eben gespalten. Also: ja, Saulus und Didymos haben sich in Paphos bei Sergius Paulus, der hier mit vollem Namen genannt wird, getroffen und  – schwupps – ist der Name Paulus neben noch einigen anderen Akzidenzien wie dem römischen Bürgerrecht auf Saulus übergesprungen und Didymos der Große, pardon Elymas der Magier, wurde abgeschossen, Paulus aber von Saulus bekehrt und nun versucht mal, liebe Philosophen, das zu bestreiten, schließlich sind sowohl die einen wie die anderen inzwischen tot.

 

Also – kein Wort wahr an der Geschicht‘? Irrtum – es ist alles wahr, sowohl die Reisen des Paulus sind wahr wie die Theologie des Saulus, denn Lukas erfindet nichts, er kompiliert lediglich die Stoffe. Überall, wo Saulus eine Predigt hält, ist Paulus auch gewesen, nur nicht zu der Zeit, in der Saulus dort gewesen sein soll und er hat nicht das gesagt, was Saulus sagte. Paulus hat, in der Heilkunde der Philosophen erfahren, hier und da eine Krankheit beseitigt, natürlich keine Toten auferweckt, was nun auf Saulus und sein Christentum übergeht. Paulus ist sicherlich in Jerusalem gewesen und ist dort in den Tempel gegangen – als Nichtjude – aber die Sache lief anders herum, nicht Saulus, der Vollundganzjude, schleppte den Heiden Timotheos dorthin, sondern der Jude Timotheos (Fürchtegott) hat den Paulus bezirzt und Lukas hat die Situation dann passend verändert, denn wie sollte ein Jude sonst Schwierigkeiten haben, den Tempel zu betreten? Natürlich, er bringt einen Heiden mit, und, obschon beschnitten, darf der das natürlich nicht. Auch die Begegnung mit Simon mag wahr sein, aber sie betrifft nicht Saulus, sondern Paulus war der „Glückliche“ zu dem passt die Bemerkung „da widerstand ich dem Petrus ins Angesicht“ auch besser, denn es gibt Einiges, worin ein guter Schüler Jesu diesem schlechtesten aller Schüler widerstehen kann, soll und muss. Die Frage einer Beschneidung oder nicht stand wohl zu der Zeit, da Simon und Paulus einander wirklich begegneten noch auf keiner Seite, denn es gab noch kein Juden-. oder ein Heidenchristentum. Die Tendenz, Jesus zu einem göttlichen Wundermann und Messias zu stilisieren aber bestand in der Person des Simon sehr wohl. Natürlich war Paulus in Korinth, natürlich in Athen, in Ephesus und auch in einigen kleineren Städten, natürlich war er in Antiochia am Orontes, natürlich nicht in Alexandria, jedenfalls nicht in offizieller Mission, denn da gab es nichts, das er hätte missionieren müssen, da hielten Didymos und nach ihm Apollos und vielleicht auch Stephanos, der dann nach Jerusalem ging, die Stellung. Die Akademie von Alexandria bestand von den Tagen des Augustus bis zu den Tagen der Hypatia und die (sehr späte) Nachricht, sie sei neupythagoreisch gewesen passt wie die Faust aufs Auge und will besagen, es wurden alle Künste und Wissenschaften dort gelehrt[1], über welche die Lehre von der Erkenntnis gebot. Denn – es gab für die Philosophie schlechtweg keinen Namen – Gnosis nannten sie nur, die ihr nicht gut wollten. Die Reisen des Paulus zeigen uns, wie weit die Lehre Jesu bereits wenige Jahrzehnte nach seinem Verschwinden im Römischen Reich verbreitet war und wie viele Menschen aller Schichten, Kulturen und Religionen an ihr Interesse zeigten, wenn sie darauf angesprochen wurden. Die Reden des Saulus zeigen uns, wie schwer es das Christentum von Anfang an hatte, gegen sie anzukommen und wie schwer es ihm fiel, sich aus seinem jüdischen Umfeld zu lösen. Und das Doppelwerk des Lukas zeigt uns, wie bemüht Christen waren, sich wenigstens von außen mit dem Anschein zu schmücken, ebenfalls von diesem Philosophen Jesus abzustammen – so bemüht, dass sie diesem eine neue Biographie verpassten und ihn in eine andere Zeit hinüber schrieben, um die allzu bekannten Spuren durch vielfache Wiederholung endlich doch zu verwischen. Aber wie sie seine Lehre nicht zum Erlöschen bringen konnten, so war es ihnen auch nicht möglich, alle Spuren der Wahrheit zu tilgen. Es sind, darüber muss Klarheit herrschen, einfach zu viele… und nur der unaufmerksam auf seinen Glauben fixierte Mensch kann sie übersehen.


[1] Als da waren – neben der Lehre selber: Mathematik, Astronomie, Medizin, Biologie, Geographie, Musik, Poetik, Rhetorik, Pharmazie, aber auch die tieferen Gründe der Mantik, die Kunde der alten ägyptischen Schriften, die Malerei und Bildnerei, Architektur, nicht zuletzt die Staatskunst und die Kunst des Wirtschaftens, sowie alte Geschichte und die Grundlagen der ägyptischen Kultur und Religion. Die Schule, einst als Privatakademie des Didymos begründet, verschmolz zum Ende hin immer mehr mit den Bildungseinrichtungen des Serapeions zu einem einzigen Institut. Erst als dieses gestürmt und zerstört worden war, lehrte man wieder in bescheidenerem Rahmen. Das Serapeion aber war sozusagen das ägyptische Gegenstück zum griechisch geprägten Museion mit der berühmten Bibliothek, die natürlich auch den Studenten am Serapeion zur Verfügung stand und umgekehrt auch die des Serapeions den Studenten des Museions.

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