21.07.2012

Die Welt der Gnosis

Der Gnostiker lebt in keiner anderen Welt als der, welcher von Gnosis noch nie etwas hörte. Aber er lebt in einer größeren Welt. Innen und Außen, Endliches und Unendliches, Totes und Lebendiges gehören gleichermaßen hinein, zwischen  „wirklich“ und „nicht wirklich“ wird eigentlich nie unterschieden, nur die Quantifizierungen dessen, was in einem konkreten Bezugssystem wirklich sein soll und was nicht, können wechseln. Natürlich ist ein Geist in einem Atomreaktor nicht wirklich – ein Atomreaktor in  einer geistigen Welt aber ist das auch nicht. Daraus ergibt sich für den aufmerksamen Beobachter schon die erste Erkenntnis: so etwas wie Parapsychologie gibt es in der Gnosis nicht. Wir zerbrechen uns über „Phänomene“ nicht den Kopf. Vielmehr wissen wir: es gibt nichts Unwirkliches, aber es gibt Wirklichkeiten und die sind unterschiedlich. Zuweilen überschneiden sie sich, aber das ist nicht die Regel. Zuletzt aber gibt es nur eine, die stets unauslotbare, außerhalb unserer Begriffe von Zeit und Raum unbeschreiblich und jenseits allen Dimensionsdenkens existente Wirklichkeit des Lebens, zu dem wir untrennbar gehören  und die zu uns gehört. Wir sind diese Wirklichkeit in einer besonderen, einzigartigen Gestaltung derselben und wären wir nicht , was wir sind und wie wir sind, die Wirklichkeit wäre nicht was sie ist. Aber da das nicht sein kann, sind solche Überlegungen wirklich nur rein theoretisch. Wir können uns aus der Welt hinaus denken – aus ihr hinaus gehen können wir nicht. Wir können sie aber weiter gestalten, über uns selbst hinaus und uns in dieses Überschreiten damit auch gleich hinein.

Nun ist das menschliche Begreifen für diese Qualität von Sein nicht geschaffen. Um sie zu erfassen, ist es nötig – und möglich – andere Formen des Verstehens zu finden. Die finden wir, indem wir uns selbst erkennen – nicht als Personen, sondern als das, was wir in alle Ewigkeit hinein sind und von aller Ewigkeit her waren. Dies Erkennen ist der Kern der gnostischen Methode, auf dieses zielt und strebt sie hin, denn sie ist keine Größe sui generis, sie ist eine Schule des Verstandes wie des Gefühls. Sie fängt mit Dingen an, die uns auch von diversen mystischen Techniken her vertraut sind – aber sie bleibt nicht dabei. Sie schreitet von dem. was uns phantastisch anmuten mag und sehr wohl Ähnlichkeiten mit „okkulten“ oder „esoterischen“ Techniken hat, immer weiter in Richtung Nüchternheit, bis alles das schlussendlich zu Makulatur wird. Der Okkultist erscheint im Vergleich zum Gnostiker, wie der ABC – Schütze, der mit dem Griffel ungelenk Buchstaben in seine Schiefertafel kratzt. Der Esoteriker erscheint im Vergleich mit dem Gnostiker, wie der Zweitklässler, der sich in Schönschrift übt und dabei den Inhalt dessen, was er schreibt, unbeachtet lässt. Manchmal betrachtet der Gnostiker seine „Schulhefte“ und lacht und denkt: Herrjemine, das hab ich mal geschrieben… und schüttelt den Kopf, aber auch das war er einmal und er bekennt sich dazu, dies geschrieben zu haben als er zehn Jahre alt war. In manchem Wort erkennt er staunend schon die ausgeschriebene Schrift, die ihm heute leicht von der Hand geht.

Die Welt der Gnosis dem zu erklären, der keine Erfahrungen mit der Ausbildung hat, ist unmöglich und wo sie dennoch versucht wird, produziert sie Missverständnisse. Das kann man besonders gut an den Weltsystemen der klassischen Gnosis sehen, aber auch an jenen Dimensionslehren, die da wie man auf gut Deutsch zu sagen pflegt, Erbsen zählen. Die Aspekte des Seins gehen so unaufhörlich und so eng ineinander über, dass man entweder vom Hölzchen permanent aufs Stöckchen kommt oder aber, so man klug ist, den ganzen Dimensionsbegriff von vornherein vermeidet. Denn alles das ist Dasein und ist als Dasein einander gleichgestellt. Unterscheidet es sich, dann nur in seiner Erscheinungsweise. Wie man schon sehen kann, ist die Welt der Gnosis nicht nach Raum und Zeit unterschieden, sondern lediglich nach der Art und Weise des Erscheinens der Bilder: welche sind es, wie sind sie beschaffen, was bewirken sie in Bezug zu anderen Bildern – und Bild steht hier durchaus auch für Person. Denn die Person ist das Bild des Wesens in einem bestimmten Bezugsraster, das von „Welt“ zu „Welt“ wechseln kann und doch immer das nämliche meint. In dieser Welt gibt konkret die Biologie die Merkmale vor, wie ein Bild erscheinen kann, in anderen „Welten“ sind die Bedingungen wieder andere, in der einen Sphäre herrscht Konstanz, in einer anderen wieder sind die Akzidenzien jederzeit frei wählbar, in wieder anderen entspricht die Erscheinung der Charakteristik des Wesens oder erübrigt sich auch ganz. Denn  ein Wesen ist nicht von seinem Erscheinen abhängig, vielmehr das Erscheinen – mit Ausnahme dieser Welt, in der signifikant andere Regeln gelten – vom Wesen.

Es fällt dem Menschen schwer, sich ein unendliches Miteinander von Wesen ohne räumliche Ausdehnung vorzustellen, allenfalls kann er Vergleiche mit der Kommunität von Kleinstlebewesen ziehen, aber der Vergleich fängt alsbald an zu hinken, denn hier haben wir es nicht mit funktionalen Existenzen zu tun, sondern mit souveränen Individuen, die sich voneinander wohl unterscheiden – und dennoch beanspruchen sie keinen Raum. Der Mensch kann das nicht fassen und so mag er sich mit Vorstellungen von den unendlichen Weiten des Alls behelfen und da das nicht wenige tun, gewinnen solche Vorstellungen denn auch eine relative Existenz und erscheinen zumindest als solches. Dabei sind die genauen Umstände, unter denen so etwas erscheint, sehr verschieden und daher kommt es, dass bei Begegnungen zweier Wesen in der gleichen Sphäre beide Wesen dieselbe Sphäre ganz unterschiedlich wahrnehmen und oft nur die reine Begegnung als Tatsache gezählt werden kann. Der Mensch, wenn er dumm ist, meint, der Umstand, dass die Jacke rot war und nicht grün, die er „im Traum“ an dem  Betreffenden sah, bedeutet, dass keine Begegnung stattgefunden haben könnte – der Kluge aber hat die „Aura“ des Anderen gespürt, ist sich sicher und achtet nicht auf die Ausgestaltungen seines internen Vorstellungsapparates.  Diese Sicherheit wird dann so man Glück hat und die Betreffenden sich auch als Menschen kennen, von dem jeweils anderen bestätigt – jedenfalls ist das ein gutes Verfahren, um solche Ereignisse dem jeweils anderen bewusst zu  machen solange er noch unsicher ist – ist er sicher, erübrigt sich das. Es ist  natürlich klar, dass bei solchen Ereignissen strengste Redlichkeit walten und jede Art von absichtlicher Manipulation unterbleiben muss. Eine einzige Manipulation kann dieses Tor für immer verschließen und so die gesamte „Eingewöhnung“ eines Menschen in die Welt des Geistes zunichtemachen. Was indes gerade in dieser Beziehung von verantwortungslosen Okkultisten und Esoterikern gesündigt wird, geht, wie man zu sagen pflegt, auf keine Kuhhaut – so werden ganze Gemeinschaften unter einem Guru geschaffen, die zwar ein schönes Beispiel für Weltanschauungsgruppen aber genau damit das genaue Gegenteil von Gnosis sind. Gnosis ist nämlich das freie Spiel der Kräfte, in dem der „Lehrer“ nur einhilft und sich alsbald verdrückt.

Wenn man die alten Dokumente der Gnosis anschaut, kommen aber ganz andere Vorstellungen heraus? Sicherlich – die diese Dokumente erstellten, wollten nicht Welten entwerfen oder Hierarchien schaffen – sie wollten lediglich ihresgleichen erklären, hinter welcher „Wegbiegung“ was zu finden wäre und Hinweise geben, wie man damit effizient verfahren könnte. Um dies zu können, entwarfen sie Karten der Welt wie sie selbst sie erfahren hatten. Sie wussten noch nicht, dass jeder die Wirklichkeit auf seine eigene Weise erfährt, die Karten also weitgehend unbrauchbar waren. Man erfährt aus diesen Papieren auch, wie Valentinus, Basileides, Kerinth, Markos und all die andern ihre Welten erschaffen haben und wer genau hinzuschauen versteht, der erfährt auch wie die erste aller Welten entstand. Aber über die Natur des Seins erfährt man – nichts. Warum auch sollte man etwas darüber erfahren, ist darin nicht jeder, der lebt, ein Fachmann? Aber nun geschieht etwas Schreckliches: diese an und für sich ganz harmlosen Blätter geraten in die Hände von Theologen… und die sehen all das natürlich mit ihren Augen und erkennen darin eine irgendwie ganz krause Religion – und so wurde dann Gnosis an die kommenden Generationen überliefert und anders kannte sie niemand mehr und natürlich stürzten sich Okkultisten, Esoteriker, Freimauere, Rosenkreuzer, Theosophen und was da kreucht und fleucht, darauf und die Satanisten obendrauf, weil einige Kirchenväter da von Orgien schwafelten. Es gab eine Szenerie wie in einer Fußballmannschaft nach einem Torschuss – einer hupft auf den andern und das ganze menschliche Knäuel nennt man dann Gnosisforschung… weg damit und zwar schnell. Wer irgend zur Erkenntnis seiner selbst gelangen will, der lasse diesen ganzen faulen Zauber beiseite. Er gehört zur Welt der Theologie und nicht zur Welt der Gnosis. Die kennt, wie hier schon gesagt, zwar unendlich viele Götter, aber keinen Gott und deren Jesus ist auch nicht der Heiland, deren „Taufe“ kein Sakrament und deren Zusammenkünfte sind auch keine Kultveranstaltungen. Wir haben deren schon einige absolviert und werden künftig wohl noch einige absolvieren, aber diese Tage zeichnen sich mehr durch Essen und Trinken, zwanglose Reden und manchmal auch intensive Gespräche aus, als durch Gesang und Gebet. Denn – die Welt der Gnosis ist kein Gemeinschaftserlebnis.

Aber es entsteht doch Gemeinschaft? Sicher, sie entsteht, wie sie überall entsteht, wo sich Gleichgesinnte treffen. Man teilt Freud und Leid, manchmal auch Tisch und Bett, man hilft sich so man kann und geht wohl auch dann und wann vergnatzt von dannen um irgendwann wieder aufzutauchen. Aber – eine Gemeinde ist das nicht und eine Sekte schon gar nicht, denn der Bezug zu irgendeinem Religionssystem fehlt völlig. also Sekte von was sollte das denn sein? Sekte von Menschlichkeit vielleicht, ja, das wäre möglich. Das Entscheidende aber tut jeder für sich allein und auf eigene Rechnung und Risiko. Wer irgendetwas von einem andern erwartet, der wird früher oder später entsetzlich Fiasko machen, lacht nicht, wir hatten das schon und es war nicht schön, zuzuschauen, wie Menschen von großem geistigen Reichtum in irgendwelchen wilden Wogen untergehen und nie wieder gesehen werden. Es geht den meisten unter ihnen gut, sicher, aber sie finden keinen Weg mehr zu sich selber und waren doch auf dem allerbesten dazu. Dennoch – dies Risiko ist begrenzt, es bezieht sich nur auf ein einziges Erdenleben und wie viele hat das Wesen, bis es sich selbst findet – es können unzählige sein, denn die Ewigkeit ist bekanntlich zeitlos, auch wenn niemand sich das vorstellen kann.

Aber was ewiges Leben ist, meinen manche, sich vorstellen zu können und dabei kommen dann lustige Bilder heraus – oder auch langweilige. Denn die Harmonie, die da entworfen wird, gibt es zum Glück für das Leben nicht, während das ewige Leben eine Tatsache ist, der jeder Mensch zu seinen Lebzeiten in einem Maß teilhaftig werden kann, dass der materielle Tod in Wahrheit seinen Schrecken verliert. Man muss deshalb auch keine Verrenkungen machen, weder solche des Leibes, noch solche der Seele, denn die Fähigkeit hierzu wird mit uns geboren und wirkt sich zeitlebens auf unser Menschendasein aus. Wir sind wie Zehen, die jemand ins Wasser hält um dessen Temperatur zu prüfen und wenn er sie für gut befindet, steigt er ein, wenn er sie für unbequem befindet, zieht er den Zeh heraus: zu kalt, zu warm, zu sauber, zu schmutzig, Teufels Großmutter bekommt mit jedem Wesen einen ernsthaften Konkurrenten, denn besonders gern geht kein Wesen hierher. Man kann es auch verstehen – hierher zu kommen bedeutet den Verzicht auf Souveränität, auf freie Beweglichkeit, auf ungehinderte Existenz, es bedeute Zeit, statt Freiheit und Entfernung statt Überall. Das Denken verlangsamt sich, das Fühlen wird ungenau, hinzu kommen einige körperliche Verrichtungen wie der Stoffwechsel und ob man das richtige Gehirn erwischt ist für die meisten Wesen auch Zufallssache. Aber es ist auch noch keiner ohne irgendeinen Gewinn zurückgekehrt, wenn auch nur wenige mit der vollen Beherrschung ihrer selbst. Und so spricht es sich qualvoll langsam herum, dass hier doch etwas „zu holen“ ist und vor allem: wer abrutscht, darf noch mal und noch mal und wieder, das Risiko, etwas zu verpassen, ist also minimal und die Welt in die man kommt, ist immer auch spannend, denn man kommt selten in dieselben Gefilde. Dieser Mechanismus ist altbekannt und alle Kulturen haben ihn auf die eine oder andere Weise, manche Kulturen konzentrieren sich so ausschließlich darauf, dass kaum noch für etwas Anderes Zeit und Kraft bleibt. Sondern alles wird dem Bestreben untergeordnet, eine „bessere Geburt“ als die gerade vorfindliche zu erlangen. Als hinge das von irdischen Dingen ab… aber sie glauben halt dran. Wir glauben nicht daran, dass unser Verhalten auf Erden wesentlichen Einfluss auf die Natur unseres Wesens hätte, wir glauben eher, dass unser Wesen zu nicht geringem Anteil unser Verhalten vorherbestimmt. Jesus, unser Lehrer, hat dieses Wesen als den Schatz benannt, den ein jeder von uns in sich trägt und aus dem er entsprechende „Früchte“ hervorbringt. Taugt der Schatz nichts, können die Früchte auch nichts taugen. Und von wegen – der Mensch ist gut: der Mensch ist einfach nur der Mensch, mal mehr nach dem Tier tendierend, von dem er stammt, mal mehr nach dem unsterblichen Wesen, aber er ist keines von beiden. Um gut oder schlecht zu sein fehlt ihm die Entscheidungsfreiheit, er bewegt sich kontextual und wie sein Umfeld ist, so ist auch er.  Sein Schatz gestaltet in diesem Umfeld sein Verhalten je nach dem, woraus er besteht und so tauchen in korrupten Familien Heilige auf und in integeren Familien schwarze Schafe. So taucht in der Familie der Borgia eine Selige und ein Rodrigo auf, der ein einfacher Mönch wird aus einer Familie, die in Linien und Nebenlinien über beinahe drei Jahrhunderte in der europäischen Politik sauber und unsauber mitmischt und so kommt in der edlen  Linie der Antonine  ausgerechnet als Sohn des Gnostikers Marcus Aurelius ein Commodus zur Herrschaft, gegen den Nero ein Waisenknabe ist.  Der Mensch ist nicht gut, er hat nicht einmal einen guten Kern, er ist charakterneutral, eine biologische Maschine, der erst ihre geistige Komponente, das Wesen, Eigenart verleiht und: Wesenheiten sind keine Engel.

In diesem Zusammenhang ein Wort zum altbekannten und besonders unter Esoterikern weit verbreiteten Engelskult. Es ist im Grunde ein pervertierter Wesenskult, der da getrieben wird, aber Wesen sind keine anbetungswürdigen Gestalten, siehe oben, sondern sie entfalten ebenso schillernde Eigenschaften wie ihre Abbilder, die vernunftbegabten Kreaturen auf Erden und anderswo. So gesehen erinnert dieser Kult an den magischen Kult diverser Mächte, die man durch Euphemismen zu besänftigen und sich dienstbar zu machen versuchte in der Annahme, dass sie sich dem, der sie nicht bei ihrem wahren Namen nannte wohlgesinnt und daher hilfreich erzeigen würden. Solche Magie kann als Vorstufe echter Erkenntnis insofern angesehen werden, dass man sich hier von der Idee des „Gutseins“ eigentlich verabschiedet hat und einem größeren Realismus zuwendet. Aber – die Mehrzahl aller Esoteriker, die Engel, also ihre eigenen Wesenheiten, verehren, tut dies durchaus im Sinne der christlichen Engellehre und ist daher weit von solchen Positionen entfernt.

Das Wesen und daher der Mensch sind also keinesfalls „gut“ und so setzt sich die „kosmische Harmonie“ denn auch aus lauter großen, kleinen und Beinahe – Katastrophen zusammen, das Leben verläuft in seiner ewigen wie in seiner zeitlichen Bahn nie linear vom „Niederen“ zum „Höheren“, sondern es sucht sich seinen Weg durch Spalten, Schrunden, durch und über Abgründe und in Sprüngen über Hindernisse: oft genug bleibt auch nichts weiter übrig, als sich unter einem solchen durchzugraben oder zu warten, bis eine andere Katastrophe das Hindernis packt und beiseite tut. Diesem Durcheinander der Prozesse ist der seiner selbst unbewusste Mensch gnadenlos ausgeliefert und natürlich verläuft dann sein Leben auch nicht linear und in steter Verbesserung seiner seelischen Beschaffenheit, sondern in Sprüngen, Rücksprüngen, Flauten, Stürmen und was es sonst noch geben mag, ein Leben in Bewegung zu halten. Anders als in der Unendlichkeit aber hinterlassen alle diese Zufälligkeiten Spuren im Bewusstsein des Menschen und diese Spuren werden mittels Seele ins Bewusstsein des Wesens transferiert, um sich auch dort auszuwirken und dasselbe vor nie gekannte Herausforderungen zu stellen. Es muss dann schon einige „Vorbildung“ vorhanden sein, damit ein Wesen diese Herausforderungen annehmen und sich mit ihnen auseinander setzen kann. Diese Vorbildung erwirbt das Wesen durch wiederholte Aufenthalte in der materiellen Sphäre oder es besitzt sie von seinem Ursprung an, welcher der Fülle des Lebens nahe ist. Dabei ist jemand, der in einem Moment wurde, da das „All“ noch in seinem Beginn der Gestaltung überschaubar war, sicher einem Wesen gegenüber im Vorteil, das entstand, als das Unendliche schon in weiten Teilen gestaltet war und sein Horizont, das Ungestaltete, mitten aus der Menge des gestalteten Lebens heraus kaum noch erreichbar. Aber der Weg der Selbst – Erkenntnis ist für beide Wesen der gleiche und hier kommen wir zu der verbreiteten Annahme, er sei auch beliebig. Das ist er mitnichten, sondern dieser Weg ist sogar ziemlich dogmatisch und wer sich an dieser Entschiedenheit stört, der betrete ihn besser nicht, er wird für diesmal gewiss scheitern. Das Dogma heißt: der Weg zur Selbst – Erkenntnis führt nicht über Lektüren und bekannte Weisheitslehren, nicht über bestimmte magische oder meditative Praktiken, auch nicht über bestimmte Substanzen, sondern der Weg der Selbst – Erkenntnis ist immer der Weg zur allerletzten Pforte des Innen und der natürliche Führer zu dieser Pforte ist der Traum. Zu einem Teil hat auch die moderne Psychologie dies erkannt und nutzt besonders die späten Stadien des Traumes, wenn das Wesen sich wieder der irdischen Sphäre zuwendet,  zur Analyse der menschlichen Persönlichkeit. Aber der Weg der Selbst – Erkenntnis geht weiter hinunter zu jenen Bereichen, in denen der Mensch nur noch über ein Minimum an vitalen Funktionen verfügt – weil er in diesem Stadium schlicht mehr nicht braucht. Aber just hier ist die „Werkstatt“ des Selbst, ob sich der Mensch dessen nun erinnert oder nicht. Je mehr er sich dessen erinnert, umso besser kann er das Erlebte allerdings reflektieren und das Ergebnis der Reflexion wiederum in den Metabolismus der Wirklichkeiten einbringen. Dazu braucht man keinerlei Drogen oder Medikamente, denn diese Fähigkeit ist dem Menschen von Geburt an eigen. Im Gegenteil, Drogen und Medikamente legen diese Fähigkeit lahm und ersetzen sie schlimmstenfalls durch ihre eigenen verwirrten Ausgeburten und – von Alkohol vermittelter Schlaf ist ein schlechter, flacher Schlaf in dem das Gehirn mehr narkotisiert ist als es wirklich schläft, es schaltet ab, anstelle dass es umschaltet[1]. Aber – wer diesen Weg nicht geht, erreicht nichts, soviel er auch zu erreichen meint. Es bleibt dabei: wer das All erkennt, sich selbst aber verfehlt, verfehlt (zuletzt) alles.

Das kann nun so verstanden werden, dass wir Bildung nicht schätzen würden  – weit gefehlt, aber wir billigen ihr keinen Wert in dem Sinne zu, dass sie Selbst – Erkenntnis vermitteln würde. Erkenntnisse über dies und das sind sicher nützlich und Kompetenzen zu erwerben ist sicher gut. Aber sie sind kein Mittel zur Selbst – Erkenntnis. Indes – sie helfen, zu einem gesunden Selbstvertrauen zu gelangen und das kann  nicht von Übel sein. Wer etwas vermag, der soll es also entfalten und wer ein Talent hat, der soll damit tun, was ihm beliebt, solange er andern Menschen dadurch nicht schadet. Was er mit sich selbst anstellt, hingegen, ist ihm überlassen; findet er Gefallen daran, sich mit seinen Talenten selbst zu schaden, so soll er es eben tun. Gnosis begreift sich nicht als moralische Besserungsanstalt – wenn jemand sein Verhalten ändern möchte, möge er es aus eigenem Entschluss tun und nicht um einem Ziel oder Ideal oder anderen Menschen damit zu genügen. Sicher wird sich die Haltung des Betreffenden mit seinen Fortschritten wandeln – aber eben diese Fortschritte sind allein seinem eigenen Dafürhalten verdankt und ich kenne etliche unserer Schüler, die eher in den Ätna springen würden, als die eigene (verkehrte) Überzeugung aufzugeben – so gut wir können, bilden wir sie dennoch, denn man kann es nie ausschließen, dass der Funke eines Tages doch noch zündet. Im selben Geist betreuten die Katharer einst ihre Credentes. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass niemand, der sich in die Gefilde der Gnosis wagt, dies ohne triftigen Grund tut, er sein ihm bewusst oder nicht. Natürlich regen solche Genossen sich dann über unsere Halsstarrigkeit erheblich auf, aber Gnosis ist kein Weg, den man in umgekehrter Richtung geht, daher müssen wir diesen Vorwurf dann wohl ertragen.

Die Welt des Gnostikers, sagte ich anfangs, ist keine andere als die desjenigen, der dieses Wort niemals in seinem Leben hörte: Selbsterkenntnis. Nur ist sie weiter, größer als jene, umfasst unendlich mehr an Wirklichkeit. Sie umfasst aber auch eben diese Welt, und zu der hat ein Gnostiker eine vielfach verkannte und missverstandene Meinung.  Er flieht sie keineswegs, aber sie ist, außerhalb der Begegnung mit anderen Menschen versteht sich, wertlos. Das bedeutet nicht, dass sie nicht interessant und auch liebenswert sein kann, aber – sie ist in einem Maße ohne Wert, dass es mitunter schwer wird, Interesse für sie und damit für die eigene menschliche Existenz zu bewahren. Alltägliche Verrichtungen werden zu fremden Gefilden, und so empfiehlt es sich, sie umso bewusster auszuführen, je mehr sie uns eigentlich entgleiten wollen, denn sie stellen  ja fatalerweise für uns keinen Haupt- und Lebenszweck mehr dar. Anderen Dingen fremd zu sein wie zum Beispiel dem heutigen Kulturbetrieb, fällt insofern leicht, als dieser Substanzielles nicht mehr zu bieten hat, sondern nur noch ein Spielplatz flüchtiger Einfälle ist. Dass das Konsumverhalten zurück geht muss uns nicht beunruhigen – unser Magen wird ein guter Lotse bleiben. Was die eigene Kreativität anregt, wird uns hingegen lieb und teuer bleiben: viele haben ein schöpferisches Hobby, machen Musik, malen oder widmen sich, wie ich, diversen Studien um das Feld der Erkenntnis herum. Auch die Betreuung von an Gnosis Interessierten möchte ich zu diesen Hobbys rechnen, denn existenziell notwendig ist solch eine Betätigung für mich nicht, womit wir gleich bei einem anderen, vielfach missverstandenen Thema wären.

Denn: Gnosis missioniert nicht und ist dennoch präsent. Man kann keinen Menschen, soll das bedeuten, zur Gnosis bekehren wie zu einem Glauben. Aber dennoch muss Präsenz gegeben sein, denn wer Ruhe für seine Seele sucht, der muss sie finden können und daher gibt es seit nunmehr fünfzehn Jahren das Projekt. Wir sind nicht gehalten, zu schweigen, aber wir haben das Recht, Auskunft dann zu verweigern, wenn wir auf Menschen stoßen, die danach trachten, uns misszuverstehen. Wir wollen weder die Welt. noch die Menschen retten, denn es gibt auf dieser Erde nichts, wovor wir sie retten könnten – wenn sie sich denn in einen Abgrund stürzen wollen, können wir sie nicht daran hindern. Wir wollen auch keine Seelen heilen – das sollen die Psychologen tun, die es studiert haben, wir haben keinen Ehrgeiz, ihnen die Arbeit abzunehmen. Zu uns kommen Menschen, die, an Leib und Seele gesund, gleichwohl in den bisherigen Bahnen ihres Lebens nichts mehr für sich finden und dennoch fühlen, dass es für sie noch etwas geben muss. Dass es nun ausgerechnet dieses ist – wer kann es ihnen verdenken, wenn sie sich erst einmal erbittert wehren. Sie haben das Recht zu prüfen und wir müssen uns dieser Prüfung stellen, an der nicht wir, sondern die Befindlichkeiten dessen sich erweisen, der prüft. Denn er prüft nicht uns, er prüft sich selber. Nur er allein kann wissen, ob er in dieser Gesellschaft richtig ist oder nicht. Daher ist der Weg hinaus aus derselben ebenso leicht wie der Weg hinein und es gibt keine Verpflichtung zu bleiben, es sei denn, man erlege sich diese selber auf. Dies aber bedeutet nicht nur die Teilnahme am laufenden Gespräch – mehr noch bedeutet es, das eigene Leben immer bewusster und zwar in Tag und Traum zu leben und immer weniger Ablenkung zu suchen, die eigenen Erfahrungen immer mehr mit dem zu vergleichen was als Wegweiser vorgegeben ist und woran man Fortschritt wie Stillstand erkennt. Einen Rückschritt wird es, man tue ihn denn bewusst und gewaltsam, nicht geben können. Indessen haben wir auch solche gewaltsamen Rückschritte erlebt und einer, der sich nur sehr schwer lösen konnte, weil er um die Wahrheit dessen, was wir zeigen, bereits aus eigener Erfahrung wusste, hätte dabei noch beinahe das Projekt mit umgerissen. Er hat aber doch, so hoffe ich wenigstens, das erreicht, was er mit seinem gewaltsamen  Nein zum eigenen Ja erreichen wollte. Anders wäre sein Opfer zu groß gewesen.

Denn Selbst – Erkenntnis ist ein Weg auf dem der Mensch nicht umkehren kann ohne sich sozusagen mit den eigenen Beinen zu verhaken. Wie wir an keinen Himmel glauben, so auch an keine Hölle – aber wir sind sicher, dass jeder Mensch sich sein Leben gemäß der eigenen Einsicht zurecht bringt. Dabei kommen mitunter Konstellationen zustande, die man beim besten Willen nicht mehr als angenehm oder auch nur sinnstiftend erkennen kann. Die Psychologie spricht dann von einem seelischen Selbstmord – der Mensch lebt weiter, funktioniert auch gesellschaftlich durchaus, aber er ist seines Elans, seiner spontanen Emotionalität beraubt. Dieser Zustand ist nicht mit einer Depression zu vergleichen, denn es fehlt ihm die Traurigkeit und Ausweglosigkeit, die bei Depressiven oft zum körperlichen Selbstmord führen – er muss sich nicht mehr töten, denn er ist bereits tot. Von manchen Zeitgenossen wird eine solche Haltung als Gleichmut und als Gelassenheit[2] beurteilt und entsprechend bewundert… aber wir teilen diese Bewunderung, wie man leicht verstehen kann, nicht. Ziel der Selbsterkenntnis ist ja nicht die emotionale Selbsttötung, sondern die Möglichkeit, alle Empfindungen frei und zugleich selbstverantwortlich zulassen zu können. Wird auf diesem Weg etwas nur halb getan, kann das schlimmer und verhängnisvoller sein, als wenn es gar nicht getan worden wäre, also wer nicht ernst machen will mit Selbsterkenntnis, der lasse es lieber ganz ehe er es beginnt und dann unbeendet weiter gären lässt. Es trifft ihn kein Schaden, wenn er es unterlässt und sich weiterhin den sich ergebenden Schlüssen unterordnet, aber es kann ihm erheblich schaden, halbe Sachen zu machen. Denn es gibt zwei Wege zur Selbsterkenntnis: einen aktiven, auf dem der Mensch mit den ihm gegebenen Möglichkeiten selbst danach „gräbt“ und einen, auf dem der Mensch sich dem überlässt was ihn am Ende zu nichts anderem als der Erkenntnis führen kann, was und wer er in Wahrheit ist. Auf diesem zweiten, dem passiven Wege gibt es praktisch keinen Irrtum, denn nie kann der Mensch sich gegen die Prozesse verhalten, die ihn umtreiben – auf dem ersten, dem aktiven Wege aber bringt jeder Irrtum und Irrweg Verdruss und Frustration und statt Erkenntnis bringt er Zerrbilder.

Wer keinem Irrtum verfallen will, muss etwas haben, mit  dem er den rechten vom falschen Schritt unterscheiden  kann. Er hat sogar mehr als eines: erstens hat er seine Träume, die er ohne Interpretation geschehen lässt wie sie geschehen und wirken lässt wie sie wirken wollen. Dann hat er, mit Glück, den Lehrer, der ihn auf dem beschrittenen Weg beaufsichtigen und vor gefährlichen Engstellen warnen, ihm hier und da auch durch dieselben helfen kann. Und dann hat er jenes einzigartige Dokument der Gnosis, das, alle Lebensbereiche tangierend, ihm überall und jederzeit Hilfe sein kann: das sogenannte Thomasevangelium, das kein Evangelium ist, sondern eine zeitlose Handreichung zur Orientierung in der Vielfalt der Ereignisse. In einigen Äußerungen kann man es ohne Weiteres wortwörtlich nehmen: es hat keinen Sinn, Heilsaposteln nachzulaufen, es hat keinen Sinn, sich exotisch zu benehmen, es hat auch keinen Sinn, um etwas zu beten oder es asketisch erzwingen zu wollen. Es hat auch keinen Sinn, wie es die moderne Psychologie gern tut, die Ursache des eigenen Lebens in anderen Leben zu suchen, sondern es geht darum, das eigene Leben so wie es ist auf sich zu nehmen, sich zu ihm zu bekennen und es so bewusste wie möglich als eigenes Leben und nicht als Produkt von fremden Einflüssen weiter zu leben. Sicher gibt es Einflüsse, kein Mensch ist eine Insel – aber was von diesen Einflüssen in unser eigenes Leben gerät, tut es unter der Maßgabe, dass wir damit einverstanden sind und so gehört es fortan uns und nicht mehr denen, von denen wir es genommen haben. Wenn solches Einverständnis auf dem Wege des geringsten Widerstandes erfolgt ist, so ist es nichtsdestoweniger erfolgt und wir haben uns damit als mit einem Eigentum auseinander zu setzen. Gefällt es uns irgendwann nicht mehr, so haben wir die Freiheit, es auszuscheiden, denn wir sind in allem unsere eigenen Herren – auch im Nein sagen. Dies alles zeigt uns das Thomasevangelium ohne dass wir tief in den Text eindringen müssten – alles was zu tun ist, ist der Vergleich mit der eigenen Lebensführung. Haben wir die Freiheiten  die uns zustehen, nutzen wir sie, beherzigen wir den Rat, der uns erteilt wird… mehr muss es zunächst gar nicht sein, was wir von diesem Text begreifen müssen. Im Verfolg des weiteren Weges werden uns dann weitere Einsichten zuteilwerden, die jeweils dem Punkt entsprechen, an dem wir uns befinden. Das will sagen: ehe wir es nicht erlebt haben, werden viele Sprüche böhmische Dörfer bleiben, sie nur zur Kenntnis zu nehmen nützt uns nichts. Erst wenn wir es in uns fühlen, werden uns die Sprüche helfen, zu verstehen, was wir fühlen. Und wer das Fühlen und Leben verlernt hat, dem werden diese Sprüche auch lebenslang nichts sagen können, gleich wie oft er in sie einzudringen sucht. Wer aber sein Leben bewusst lebt, dem werden sie immer wieder und immer wieder Neues zu sagen haben, denn ihre Tiefe ist nicht auszuloten und die Genialität des historischen Jesus ist selbst noch in diesen wenigen Kernsprüchen seiner Lehre immer von  Neuem aufzufinden – wie mag erst der Mensch selber gewesen sein, welche Anziehung, welche Ausstrahlung mag er besessen haben?

Wir wissen es nicht  mehr und um die Evangelien des Christentums brauchen wir uns in diesem Zusammenhang gar nicht erst zu bemühen, sie geben diesen Menschen nicht wieder, sie sind Literatur und nichts als das. Zudem sind sie Literatur aus dritter und vierter Hand. Wenn wir Bruchstücke ursprünglicher Biographik finden, die es mit Sicherheit gegeben hat, dann stehen diese Bruchstücke zusammenhanglos in einem ganz anders ausgerichteten Text und sie wieder zu gewinnen wirft auch nicht  mehr als ein flüchtiges Licht auf diese Person, das alsbald wieder in einem Wust frommer Interpretationswut und Redaktionseifer untergeht wie es im Johannesevangelium der Fall ist. Einzig die Tatsache, dass es nach ihm ein Christentum gegeben hat und gibt kann uns einen Hinweis auf diese außerordentliche Person geben, denn schließlich bringt es nicht jeder Mensch dazu, Jahrtausende nach seinem natürlichen Tod noch weltweit als Erlösergestalt, als Gottessohn, ja selbst als Gott verehrt zu werden. Das Thomasevangelium lehrt uns ein wenig zu verstehen, warum dies wohl so gekommen ist und wir dürfen unserer Bewunderung ruhig freien Lauf lassen – solange wir diesen Menschen als Menschen gelten lassen. Denn nicht was er gewesen ist, ist für uns bedeutsam, sondern was er uns an Ratschlägen und Hilfestellungen hinterlassen hat ist es. Auch das unterscheidet uns von den Christen, für die die Person entscheidend ist,  die Lehre hingegen stets modifiziert werden darf, weshalb es im Christentum auch seit jeher eine lebendige Auseinandersetzung um das Neue Testament gibt. Für uns hingegen können die Spekulationen um die Person gern ins Uferlose wuchern und wir beteiligen uns auch gern selbst hier und dort an dieser Spurensuche – aber die Lehre ist unantastbar und sie ist diese, die da niedergelegt wurde und keine andere. Auch die Dokumente aus der Zeit der sogenannten klassischen, erst recht der späten Gnosis verfallen diesem Verdikt und wir betrachten sie als dieser nicht ebenbürtig und schon gar nicht überlegen. Eher schon sind wir geneigt, in dieser Hinsicht das Goethe’sche Wort vom getretenen Quark zu zitieren.

Doch, wir können und wir müssen sarkastisch sein angesichts einer über Jahrtausende betriebenen Geschichts- und Ideenfälschung und oft bleibt etwas anderes als Sarkasmus uns gar nicht übrig, denn im Verlauf dieser Fälschungen sind unendlich viele echte Spuren vernichtet worden, sodass wir meist nur aus dem Schatten der Fälschung Hinweise auf das gewinnen können, was die echte Vorlage zu ihr gewesen sein könnte. Hingegen was die Lehre angeht, stehen wir dank dem Thomasevangelium auf sicheren Füßen. Dennoch werden wir niemanden davon abhalten, sich weiter auf schwankendem Boden zu bewegen, wenn ihm das besser gefällt. Auch wir lieben es, Akrobaten zuzuschauen, wie sie mit schier unglaublichen Verrenkungen versuchen, eigene liebe Gewohnheit und konkretes Erfordernis radikaler Neuorientierung miteinander überein zu bringen. Denn wir zwingen niemanden und gerade in diesem Moment sind wir Zeugen der abenteuerlichsten Manöver, denn: man kann auf die Länge nicht umhin, aber man wird auch vor allem anderen den Teufel tun, in sich selber nach dem Kern alles dessen zu graben „was die Welt im Innersten zusammen hält“. Ein ganzes riesiges Gebäude aus Mythen und Annahmen gezimmert, wird nur noch von seinen Rissen zusammen gehalten und da ist es tunlich, heftige Bewegungen zu vermeiden – wir verstehen das. Wir haben auch nicht die Absicht, jene nicht  mehr ganz heile Welt mit Hammerschlägen zu traktieren. Es genügt uns vollauf, der permanente Schimmel im Gebäude zu sein, wir waren es vor Jahrtausenden und wir können es weiterhin bleiben. Die Gnosis ist, allen Trompetenstößen zum Trotz, ja nie ausgerottet worden – selbst in den abstrusen Mystiken des nachreformatorischen Geisteslebens lässt sich ihre flüchtige Spur erkennen und verfolgen und erst recht lässt sie sich dort wahrnehmen, wo der flüchtige Beobachter nur an Aufklärung denkt und an Rationalismus, denn: Gnosis ist letztenendes  ebenfalls rational,  nur verzichtet sie nicht auf jene  Komponente, welche sie Geist nennt und was einigen unserer Mitarbeiter herbes Unbehagen bereitet, weil ihr platter Rationalismus nicht in der Lage ist, mehr als die Vordergründe der Existenz wahrzunehmen  – nun gut, dann sind sie es eben  nicht und wir müssen sie ihrem Unbehagen überlassen. Denn es steht auf der anderen Seite nirgendwo geschrieben, dass nicht auch die Potenziale des platten Rationalismus der Erkenntnis etwas zu bieten haben könnten, der sie ja über alle diese  -ismen souverän herrscht und der König nimmt es bekanntlich von dort, wo er es bekommen kann: die Philosophie von den Philosophen, die Psychologie von den Psychologen, die Biologie von den Biologen, die Physik von den Physikern und so weiter und so fort; sie erfindet das Rad nicht neu.

Doch – Gnosis ist durchaus und nicht nur meiner Meinung nach die unumschränkte Herrscherin  im Reich des Geistes, denn sie kann sich selbst überall wiederfinden, während die diversen Teilbereiche des Geistes sich in ihr auch nur zu Teilen wiederfinden können. Vom Selbst geht alle Erkenntnis aus, das ist einer ihrer Kernsätze und zum Selbst kehren auch alle Erkenntnisse zurück und ein seiner selbst unbewusstes Selbst rezipiert die Details, während ein seiner selbst bewusstes Selbst die Details in ihren Gesamtzusammenhängen zu erkennen in der Lage ist – ob es das jeweils tut oder nicht, ist von seinem Willen abhängig. Derhalben, muss ich errötend gestehen, langweilen mich manche Entwicklungen und Entdeckungen der strebenden Menschheit zuweilen zu Tode und ich kann nur gähnend feststellen, dass man dort nun endlich doch aufgewacht ist. Aber das wird demjenigen, dem diese Menschheit noch eine Neuigkeit ist, sicher anders gehen als mir, die ich sie in vielen Etappen ihres Weges eingehend studieren durfte. Mich bringt man so rasch nicht mehr aus der Ruhe… und wenn ich es genau betrachte, gibt es nur noch eines, das mich in Rage bringt: Lügen und Halbwahrheiten. Ungerechtigkeit hingegen erwarte ich von der Menschheit mehr oder weniger selbstverständlich, da in dieser Menschheit bisher nur jeder das Seine suchen kann, da ein Gemeinsames noch überhaupt nicht bekannt ist. Man redet darüber, sicher, aber man „hat es“ nicht „in sich“ und nur so, in uns selber entstanden, werden hohle Begriffe und Phrasen zu gesellschaftlichen Fakten und zu unverzichtbaren existenziellen Grundlagen. Kommen wir selbst den Dingen nicht auf den Grund, haben sie keinen solchen und unser Freund Rolf hat völlig recht, wenn er sie als Leerformeln bezeichnet, denn dann sind sie nichts anderes. „Liebe“, „Wahrheit“, „Humanität“ und der ganze Korb ähnlicher Generalbegriffe sind „tönendes Erz“ und „klingende Schelle“ bis der Mensch sie aus dem Geist heraus mit Leben erfüllt. Daher, weil der Mensch das ausgerechnet dort nicht tut, wo er Macht über andere Menschen hat, macht er die Menschen, über die er Macht zu haben glaubt, an diesen Grundbegriffen einer wahrhaft menschlichen Existenz irre. Das wiederum sorgt nun dafür, dass der passive Weg der Erkenntnis immer ein aufhaltsamer bleibt.

Der Gnostiker, zum dritten Mal, lebt in keiner anderen Welt als der, welcher nie von Gnosis hörte. Aber er lebt weniger auf die Sorge um den eigenen Umkreis beschränkt, weil dieser Umkreis seine Aktivitäten nicht mehr bindet. Und – er sieht die Menschen, mit denen er lebt, nicht mehr durch die Brille der eigenen Befindlichkeiten. So kann er sich ihrer Sorgen annehmen, ohne dass dabei jene fatale Situation entsteht, dass der, um den man sich kümmert, zu einem Spiegel der eigenen Befindlichkeit wird. Da wird niemand in fremde Koordinaten eingepresst, wie das in den diversen Weltanschauungen geschieht, mit denen sich ein Mensch im Laufe seines Lebens umgibt und von denen er sich umgeben sieht. Wir helfen, wenn wir helfen, dann eben nicht in erster Linie uns selbst, denn da gibt es nichts mehr, dass wir auf diese Weise für uns tun müssten. Wir haben aufgehört, die Parasiten fremder Existenz zu sein. Wenn wie auf die eigene sehen, sehen wir nur die eigene, wenn wir fremden Befindlichkeiten nachforschen, sehen wir nur die fremden Befindlichkeiten. Wir sind aber zunehmend weniger gefordert auf die eigene zu sehen. Wir sind auf der andern Seite auch nicht verpflichtet, auf fremde Befindlichkeiten zu schauen und unser Leben sozusagen als professioneller Helfer und Retter der Menschheit zuzubringen, was nur frustrieren kann, denn entweder können wir nicht in der erforderlichen Weise helfen oder man will unsere Hilfe nicht, weil man ihr misstraut. Zu viele „helfen“ und „retten“ und die Menschheit bleibt wie sie ist, krank und abhängig vom Zufall[3], der sie bald in diese, bald in jene Richtung drängt. Im wahrsten und buchstäblichsten Sinne ist die Menschheit, angefangen von unserem nächsten Umfeld bis hin zu fremden und unbekannten Horizonten, nicht zu retten. Jeder, der ihr angehört, kann sich, wenn, dann nur selbst retten indem er aus der Selbsterkenntnis jene Kraft schöpft, der kein Lug und kein Trug widerstehen kann. Anders, sagt der Thomastext und er ist hierin sehr pragmatisch, wird „er es nicht machen können“ so wenig wie er das Lamm, das er für ein künftiges Festmahl mit sich führt, wird essen können ohne es zu schlachten. Dies aber obliegt seiner, des Menschen, eigenster und intimster Entscheidung auf die wir weder Einfluss nehmen können, noch Einfluss nehmen wollen. Ich hier wollte dem, der sich für unser Projekt vielleicht aus dem Grunde interessiert, weil er alte Bücher gelesen hat und nun endlich wissen will, wie solche Leute „ticken“ auch nur einige für ihn vielleicht wichtige Dinge erklären….

 


[1] Das ist übrigens auch der Grund, warum es in der Narkose nicht zu Traumereignissen kommt. Das Aufzeichnungsgerät ist ausgeschaltet.

[2] Sehr häufig ist sie im monastischen Milieu anzutreffen.

[3] Zufall hier als Begriff für die Schnittstellen an denen mehrere Prozesse einander kreuzen und wechselseitig beeinflussen.

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