10.02.2015

Schlechter Deutsch und gutes Deutsch

 

Es geht nicht immer nur um Grammatik. Es geht auch nicht immer nur um korrekte oder nicht korrekte Schreibweisen. Andere Sprachen haben es in dieser Beziehung leichter. So ist es einfach, gutes Französisch von unbeholfenem zu unterscheiden, weil die Festlegungen der Academié fran?aise bereits seit Jahrhunderten festlegen, was als gutes und was als schlechtes Französisch zu gelten hat. Auch das Oxford – Englisch macht da gewisse Vorgaben, obgleich diese Vorgaben in letzter Zeit sehr in die Kritik geraten sind und kaum noch jemand reines Oxford – Englisch schreibt oder gar spricht. Für die deutsche Sprache und für andere europäische Sprachen fehlt eine solche Institution oder ist sichtlich nicht kompetent genug für ihre Aufgabe.
Nun handelt es sich bei den genannten Sprachen sämtlich um lebendige Sprachen, was ihre Veränderlichkeit einschließt. Überflüssiges wird ausgeschieden, neue Wörter, neue grammatische und syntaktische Möglichkeiten kommen hinzu, Manches davon erscheint plausibel und lange fällig, weil es die Zahl der zu lernenden Ausnahmen vermindert, manches hingegen erscheint wie die Verbeugung der an der Hochsprache orientierten Umgangssprache vor den Gewohnheiten der Straße. Von den neuen Wörtern, die in der deutschen Sprache dazu gekommen sind, sind übrigens null Prozent auch deutschen Ursprungs, es handelt sich sämtlich um Übernahmen und Entlehnungen aus dem Amerikanischen. Einer Überflutung des Deutschen mit Hilfsverb – Konstruktionen analog zum angelsächsischen Gebrauch konnte noch eben Einhalt geboten werden, ehe eine Flut von „tust du tun“. „hast du haben“ und „wirst du werden“ und Ähnlichem uns die eigenen Möglichkeiten des direkten Ausdrucks verstellte. Andere grammatikalische Konstruktionen hatten nicht so viel Glück, so verliert sich momentan die „starke“, das heißt umlautende Flexion zugunsten einer schwächlichen Neigung zum sprachlichen Schematismus und ich habe, ich versichere es hier, schon von „geschliffenen Mauern“ gelesen, anstelle von „geschleiften“ und es wird sicher auch nicht lange dauern, bis „ich habe im Vorbeigehen jemanden gestriffen“ da stehen wird, wo bisher „gestreift“ stand, obgleich es sich hier um keine starke Flexion handelt, sondern um eine reine Ableitung, aber wer schaut schon noch danach. Hingegen ist die Umwandlung von „Greuel“ zu „Gräuel“ legitim, da kein Mensch mehr weiß, dass „Greuel“ vom mittelhochdeutschen „grewen“ kommt – allerdings kommt es auch nicht von „grau“her, sondern von „grauen“ her, der neudeutschen Umlautung von eben diesem „grewen“. Entbehrlich ist bei manchen Ausdrücken auch das „zu“ bei „brauchen“, obgleich das schon die Grenze des guten Geschmacks streift, denn „zu brauchen“ ist eben immer noch ein eleganterer Ausdruck für manches, was man nicht zu brauchen scheint. Ich bin mir sicher, dass ein Mensch, der heute gewandt Deutsch spricht, in hundert oder zweihundert Jahren in unser Umgangsdeutsch hineinsehen wird, wie wir in ein althochdeutsches Manuskript: wir lesen es zwar, nehmen auch hier und da noch Anklänge an Bekanntes wahr, aber wir wissen nicht mehr, was wir da sehen.
Zudem dürfte diese Sprache dann von Anglismen geradezu überwuchert sein – man verstehe mich nicht falsch, ich bin kein Verfechter eines sprachlichen Purismus, aber wenn, wie es geschieht, schon selbst die Syntax englischen Vorbildern folgt: ich erinnere an dieses Muster „ich sage das, weil ich bin ärgerlich“ was zwar eine getreue Übersetzung des englischen „I‘m telling this, because I am angry“ ist, das als solches korrekt ist, aber im Deutschen pflegt das Verb im Kausalsatz an einer anderen Stelle zu stehen. nämlich: ich sage das, weil ich ärgerlich bin“ – dann steht wohl einer weiteren Umbildung der deutschen Syntaxregeln nichts mehr im Wege und man muss wahrlich kein Sprachpurist sein und schon gar kein Prophet, um einschneidende Veränderungen auch und vor allem an der Sprachästhetik des Deutschen wahrzunehmen. Wovon aber wird dieser Wandel maßgeblich bestimmt? Von dem Bestreben, eine noch elegantere Sprache zu erschaffen? Wohl kaum. Von einem Streben nach Vereinfachung? Mag sein. Von der seit Luther verbürgten Regel, dem Volk aufs Maul zu schauen? Ganz bestimmt. Denn das Volk redet wie ihm der Schnabel gewachsen ist, da ist „tust du tun“ schon ganz eigentümlich in allen möglichen Verbverbindungen präsent als „tu ich gehen“ oder gar „tu ich machen“, natürlich ohne das grammatisch korrekte „e“ als Auslaut der ersten Person Singularis von „tun“ und daneben ist Orthographie sowieso längst Glückssache, manchen Korrektor mancher renommierten Tageszeitung, von der Boulevardpresse rede ich schon gar nicht, hätte man noch vor einigen Jahrzehnten gnadenlos gefeuert und manchen Setzer hinterdrein, denn auch ein solcher muss etwas von der Sprache verstehen, in der er die Texte in die Maschine tippt. Sprachästhetik – ist das etwas zum Essen?
Das wohl nicht, aber ein Mangel an Sprachästhetik kann dazu führen, dass dieselbe etwas zum Erbrechen wird. Ein Sprachempfinden, welches an deutscher Literatur der Weltgeschichte geschult ist wird zum Beispiel den Gebrauch des Dativ an ungewöhnlichen Stellen zwar verstehen, aber dennoch wird es in seinem Sprachgefühl erheblich rumpeln. Wenn er zum Beispiel liest „ich lehre ihm…“ das und das, dann wird es ihm mulmig zumute werden, denn er ist daran gewöhnt, hier den Akkusativ zu benutzen, andernfalls würde er sagen „ich bringe es ihm bei“, dann ist der Dativ legitim, ansonsten ist er ein, wenn auch genehmigter, Ausrutscher, man kann eben schlechtes Deutsch und man kann gutes Deutsch schreiben. Genehmigt? Ja, zumindest nicht verboten und demnächst schreibt man wohl auch „nämlich“ doch mit „h“. Aber wir müssen es zugeben, so schwer es uns fällt, es gibt schlechtes Deutsch und es gibt schlechtes Deutsch nicht nur am Stammtisch, sondern auch am Rednerpult im Parlament. Es gibt Menschen, die haben von einer Ästhetik der Sprache noch nie etwas vernommen und diese Menschen gibt es nicht nur unter den kaum Gebildeten, denen man es verzeiht, sondern auch unter denen, die flüssig genug lesen können um sich an deutscher Literatur zu bilden. Wie man sieht, leiste ich mir hier gerade eine Menge an sprachlichen Freiheiten, denn die Eigenart des Deutschen ist es eben nicht, endloses Befolgen unverstandener und unverständlicher Regeln zu verlangen, die Eigenart des Deutschen ist die Freiheit zur individuellen Gestaltung mit vorgegebenem Material. Man darf an den Bauklötzen sägen und feilen, wenn das Ergebnis es durch Eleganz und Aussagekraft rechtfertigt. Aber wer, liebe deutsche Mitbürger, hat schon ein Gefühl dafür entwickelt, was Eleganz und was sprachliche Unbeholfenheit ist? An unseren Schulen wird es nicht gelehrt – oder doch? Gibt es nicht auch Benotungen für zumindest den schriftlichen Ausdruck? Da haben wir doch, was wir suchen.
Es gibt nichts Langweiligeres als einen grammatisch komplett korrekten deutschen Text. Und es gibt nichts Schrecklicheres als einen Text, der sich durchweg nur der Umgangssprache bedient, wie ihn die „bildungsfernen“ Schichten sprechen. Es liegt durchaus in der Freiheit des Gestalters, in einem Text sozusagen Glanzlichter zu setzen, hier und da die Vorgaben der Syntax mit Absicht zu verlassen, es gibt eine ganze Reihe von Satzzeichen, die ihm solches ermöglichen. Er kann einen Satz in den berühmten drei Punkten unvollendet auslaufen lassen, der Leser wird sich den Rest gerne selber dazu denken, er kann Verhalte, Pausen und Extempores mit Kommandostrichen signalisieren, er kann das Semikolon verwenden, das Inhalte trennt ohne den Satzzusammenhang als solchen zu zerschneiden, er kann, dies eine neuere Praxis, nicht ganz wörtlich gemeinte Ausdrücke in Anführungszeichen setzen, der Leser hört den ironischen Nebenton. Er kann unvollständige Sätze bilden, der Leser wird sie zu vollständigen ergänzen. Aber schon bei dem im Englischen obligaten apostrophierten „s“ beim besitzanzeigenden Genitiv wird er zucken, denn so bilden wir ihn nicht. Es ist dieses Ding, welches es auch sei, wenn es mir denn gehört „meins“ und nicht „mein’s“, was des Kaisers ist, ist nicht des Kaiser’s. Ja, er kann, unser Schreiber, sogar einen Satz mit „Und“ beginnen, wenn’s nicht zu viele dieser Art sind und die Absicht rhetorisch nachvollziehbar. Kleine Sünden sind, wie das zeigt, durchaus erlaubt – aber keine solche großen Verstöße wie „ihm lernen“ – ach nein, es hieß ja „ihm lehren“. Ja, es gibt wohl Noten für den schriftlichen Ausdruck, aber man lernt ihn nirgendwo, das ist es. Kein Lehrer, der die unbeholfenen oder verfehlten Formulierungen anstreicht, sagt dem Schüler auch zugleich, warum das hier unbeholfen oder verfehlt ist und was man dagegen unternehmen könnte. Denn zu einem solchen Vortrag ist er oft selbst nicht imstande. Er weiß nur, dass es so eben „nicht geht“, warum es so nicht geht, weiß er aber oft so wenig wie sein Schüler. Man kann es ihm auch nicht übelnehmen, denn ein Germanistikstudium in Richtung Lehramt ist oft nicht viel mehr als die Vermittlung diverser Regeln und mechanisches Lernen von Ausnahmen – den größeren Teil nimmt die Analyse der deutschen Literatur als aussagendes Medium, nicht etwa als sprachbildendes Element ein. Natürlich ist es möglich, auch Umgangssprache literarisch abzubilden, etliche Autoren haben hier Großartiges geleistet, ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ – aber um das zu tun ist es nötig, die deutsche Sprache und ihre Ausdrucksmöglichkeiten im Schriftlichen mehr als nur schematisch zu beherrschen. Dazu muss man sie beherrschen, wie ein Pilot einen A 380 nicht nur fliegt, sondern beherrscht, weil er weiß, was zu tun ist, wenn das Ding einmal nicht macht, was er von ihm will. Die deutsche Sprache – und nebenbei bemerkt jede andere Sprache auch – ist solch ein Airbus, den man wohl fliegen kann, den man aber beherrschen sollte, wenn man auf ihm sicher dort ankommen will, wohin die Reise geht. Viele können ihre „Airbusse“ indes nur gerade fliegen, von Beherrschen kann die Rede nicht sein. Und wenn eine brave Lehrerin vor einer Klasse steht, in der achtzig Prozent der Schüler die deutsche Sprache erst einmal erlernen müssen, kann man ihr eigentlich auch nicht mehr böse sein, wen sie mehr als „Fliegen“ ihren Schützlingen nicht beibringen kann. Sie kann ja meist die Sprache nicht, die ihren Schülern von Hause aus vertraut ist und kann so auch keine Brücken von einer zur anderen bauen. Aber wenn, wie es vorgekommen ist, ein Mensch seine eigene Muttersprache darum nicht beherrscht, weil derjenige, der ihn in die Geheimnisse derselben einführen sollte, diese Geheimnisse selbst nicht kannte, ist das nichtswürdig und verdammenswert. Aber was red ich – ich weiß doch gut genug, dass ich viel zu viele verdammen müsste, wollte ich mit dieser Maxime ernst machen. Es ist eben nicht damit getan, dem Schüler eine Grammatik zu schenken, nicht einmal eine gedruckte Stilkunde tut’s. Es fehlt das Wort, es fehlt der Hinweis auf die Tücken es Objekts, die gerade dann zuschlagen, wenn man glaubt, nun alles richtig zu machen. „Ihm etwas lehren“ – mit dem Hintergedanken und der Ableitung und der Gleichschaltung von „ihm etwas beibringen“ mag möglich sein, falsch ist es dennoch und zumindest weiß der Mensch nicht, dass es hier nicht um das Übergeben einer Information geht, die den Dativ ermöglichen würde, sondern um das Belehren über einen Sachverhalt, das man auch dann praktiziert, wenn der gemeinte Empfänger gar nicht zuhört. Man lehrt ihn über etwas Bescheid zu wissen, wenn er mag – man übergibt es ihm nicht in die Hand. Aus derselben kann er es sich höchstens nehmen. Aber das sagt dem armen Schüler niemand und so kann er den Unterschied zwischen den beiden Formen auch nicht verstehen und seine Wahl nicht treffen – er hat gar keine. Aber die deutsche Sprache ist voller Wahlmöglichkeiten und er weiß gar nicht, was alles ihm entgeht. Er hangelt sich durch seine eigene Sprache wie durch etwas Fremdes, ja sogar Gefährliches, denn man kann zumindest einen Aufsatz damit verderben, dass man nicht weiß, womit man es zu tun hat. Man kann auch mehr damit verderben, nämlich das eigene Innenleben, das sich nicht mehr angemessen artikulieren kann. So aber kommt der Mensch, weil er dies nicht kann, zum Gebrauch von Worthülsen mit denen er sich seine Mitmenschen notdürftig vom Leibe halten kann, weil sie nicht wissen, wie es wirklich in ihm aussieht. So kommt es dahin, dass einer nicht mehr spricht, sondern nur noch quasselt. So kommt es dahin, dass er Schemata benutzt und keine Bilder malt – oder eine Art „Malen nach Zahlen“ entsteht, bei dem das Gewicht auf der Nachahmung liegt.
Und wie lösen wir nun das Problem? Ich fürchte, wir lösen es nie. Denn die Menschen, die es lösen könnten, werden immer weniger und irgendwann werden sie ganz ausgestorben sein… und sie werden den bedeutenden Rest ratlos zurücklassen als Fremde in der eigenen Welt. Aber ist das nicht nur ein Symptom der Entfremdung, die alle Gebiete des Lebens entweder schon erreicht hat oder noch erreichen wird?

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