31.07.2014

Nikos Kazantzakis „Die letzte Versuchung“

 

Es gibt Bücher, die liest man einmal und es ist genug. Es gibt Bücher, die liest man immer wieder, bis man sie endlich beiseitelegt und für immer. Und es gibt Bücher, die liest man einmal, dann noch einmal und dann entfalten sie in uns ein Eigenleben, das uns in Abständen immer wieder an sie erinnert und so leben sie mit uns. Das Buch von Kazantzakis gehört für mich dazu.
Es gibt auch einen Film zu dem Buch, über ihn möchte ich aber nicht schreiben. Wer möchte, kann ihn sich ansehen, aber er gibt das Wesentliche des Buches nicht wieder. Wie sagte meine Bekannte, die Dorothea Siewert – Medek im Allgemeinen dazu: man kann aus guten Büchern nur schlechtere Filme machen und dies ist ein sehr gutes Buch, also ist der Film daraus auch nicht ganz schlecht geworden, aber er ist der Film und das Buch ist das Buch.
Wichtig ist vielleicht zu wissen, dass Kazantzakis für dieses Buch von seiner Kirche exkommuniziert wurde. Das ist umso erstaunlicher als er die Grundlagen des christlichen Glaubens keineswegs leugnet. Der Jesus seines Buches, denn um diese Person geht es zumindest vordergründig, ist ganz und gar der Jesus der Bibel – und doch, und dann wundert es mich schon viel weniger, schillert diese Person zwischen Zügen, die dem biblischen und solchen die – intuitiv – dem historischen Jesus zugehörig sind und es geht zugleich weit über beide hinaus in Regionen, die nur noch im Reich des Geistes beheimatet sind. Das mag der orthodoxen Kirche, die sich eigentlich so viel auf ihre Geistigkeit zugutehält, dann doch zu viel geworden sein.
Der Jesus des Kazantzakis ist treu nach der Bibel der Sohn eines Zimmermanns und seiner Frau Maria – Miriam. Er hat das Handwerk seines Vaters erlernt, aber er zimmert im Einvernehmen mit den Römern, die das Land besetzt haben, die Kreuze, an die man die diversen „Messiasse“ Israels heftet. Historisch ist das der blanke Unsinn, denn die Römer besorgten ihre Kreuzigungen stets selbst, jeder beliebige Legionär verstand sich auf das Zuhauen der dafür nötigen Querhölzer und Sedilien, die Langhölzer waren normalerweise, wenn es nicht um Massenkreuzigungen ging, bereits am für die Hinrichtung bestimmten Ort vorhanden. Aber Kanzantzakis will uns mit diesem Kunstgriff sagen, dass Jesus und seine Familie eigentlich mit den Römern im Einvernehmen leben – wie auch viele andere Israeliten seiner Zeit. Aber auch in der kleinen Stadt Nazareth in der er lebt, ist es zu spüren: es brodelt in Israel. Man lebt nicht abgeschnitten von den Ereignissen im Land und die Stimmung ist gegen die Römer, für die Jesus seine Kreuze schnitzt. Er selbst wird um dieser Beschäftigung willen von den anderen Israeliten verachtet. Auch die Liebe der Rabbinertochter Miriam kann er auf diese Weise nicht erringen und zuletzt und im Tiefsten – hasst er sich selbst für das, was er tut und er tut es nur, weil er hofft, auf diese Weise den Wundern und Weissagungen zu entgehen, die ihn seit seiner Geburt umschwirren. Kurz und gut: er will seine Bestimmung nicht erfüllen, will nicht der Gottessohn sein, für den seine Mutter ihn hält.
Aber eines Tages legt er sein Werkzeug beiseite und macht sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub, hin zu den Einsiedlern am Toten Meer wo er, als er eintrifft, aber schon vom Leiter der Gemeinde als der Gottessohn und Messias erkannt wird – der kurz darauf verstirbt. Er bleibt eine Zeit lang bei den Einsiedlern, lernt dort auch den Zeloten Judas kennen, der mit dem Befehl gekommen ist, ihn umzubringen, ihm stattdessen aber nachfolgt, aber er fühlt: dies ist nicht das Leben, das er sucht. So macht er sich auf und besucht den neuen Prediger Johannes, der am Jordan lebt und zu dem die Massen strömen und der für eine Erneuerung des Volkes Israel eintritt – dann werde, so sagt er, das Land Israel auch frei werden. Zum Zeichen der Umkehr und Bereitschaft sollen die Menschen sich im Jordan von ihm taufen lassen. Diese Umkehr wünscht auch der Kreuzzimmerer Jesus und so lässt er sich von Johannes taufen. Im Augenblick da er ihn tauft, erkennt Johannes, wer Jesus ist und spricht es auch aus: „ich taufe dich Jesus, Gottes Sohn, die Hoffnung der Menschen!“ Judas, der mit ihm gekommen ist, bemüht sich vergebens, die nachfolgenden Gespräche Jesu mit dem Täufer zu verstehen, ihm ist, als vernehme er nur Naturlaute. Aber als er von Johannes Abschied nimmt, ist er entschlossen, seine Sendung anzunehmen, nur nicht in Zorn und Hass wie der Täufer, sondern als Sendbote der Liebe. Jakobus und Andreas, die er bereits in der Wüste kennen lernten, sowie Judas schließen sich ihm an. Zu ihnen gesellt sich dann bald der sehr junge Johannes, der Bruder des Andreas und in der Folge gesellen sich immer mehr Menschen dazu, auch Simon Petrus, der älteste Bruder von Johannes und Andreas, alle nach ihrem Vater Zebedäus, einem reichen und auch reichlich selbstgerechten Fischer, auch die Zebedaïden genannt. Der Schauplatz der folgenden Ereignisse ist Kapharnaum, wo Zebedäus seinen Fischereibetrieb hat und auch Miriam, die Tochter des Rabbiners aus Nazareth, inzwischen eine Art Bordell betreibt, deren einzige Hure sie selbst ist. Jesus erfährt, dass auch sie ihn liebt, was er niemals vermutet hat, aber sie weist ihn, nachdem sie ihn eine Nacht beherbergt hat, ab und führt ihr Leben als freischaffende Hure weiter. Jesus geht in die Wüste, von Zurückweisung und Selbstvorwürfen gequält und hofft darauf, in der Wüste umzukommen wie der Sündenbock des Versöhnungsfestes, auf den er dort trifft. Aber seine Sendung ist eine andere – zwar wird er, das weiß er nun, wie dieser Sündenbock umkommen, aber nicht hier und nicht in diesem Moment… er hat die Bilder, die seine geistige Gefährtin, die sich Verdammnis nennt, ihm zeigt, wohl verstanden. Er wird seine Gefährtin in Jerusalem wiedertreffen.
In der Zeit, die ihm noch bleibt, sammeln sich Menschen um ihn und er lernt die Vorstellungen kennen, die sie von ihrem persönlichen Heil haben, lernt, dass solche Vorstellungen nicht auf die angeblich Rechtschaffenen beschränkt sind, sondern dass gerade die gesellschaftlich Benachteiligten und die Verstoßenen Vorstellungen von ihrem persönlichen Heil haben. Im Übrigen nehmen die Ereignisse nun ihren biblischen Lauf und es kommt zur Kreuzigung, die durch Judas möglich wird, der unter der Last des ihm von Jesus aufgetragenen Verrats zerbricht. Im Einzelnen sind diese Szenen aber alle voller wichtiger Gedanken, es empfiehlt, sie sämtlich gründlich zu lesen und zu bedenken, auch wenn ich sie hier nicht im Einzelnen aufführe. Denn es geht nun zügig auf die letzte große Versuchung Jesu zu: den von ihm selbst insgeheim gehegten Wunsch, er möge doch sein wie alle anderen auch und der Kelch möge an ihm vorübergehen. Und siehe da, er geht an ihm vorüber; zwar ist die Kreuzigung vollzogen, aber da kommen Engel und nehmen ihn vom Kreuz ab, seine Wunden heilen und genesen geht er wieder auf Wanderschaft, findet Miriam, die er aus den Fängen ihrer selbstgerechten Verfolger befreit und beginnt mit ihr ein Familienleben als Zimmermann, bekommt Kinder, für die er Wiegen schnitzt und wird im Schoße der Familie und als geachteter Handwerker alt, als er unvermittelt aufgestört wird, weil eine bunte Schar in seine geordnete Welt einbricht, die seine alte Lehre in total entstellter Form vertreten, aber nun froh sind, dem Meister selbst zu begegnen – der er gar nicht mehr sein will. Ihr Lehrer ist ein gewisser Paulus… und Jesus erschreckt sich zutiefst darüber, was aus dem, was er einst lehrte, geworden ist. Aber er kann es nun nicht mehr ändern, denn ihm würde niemand glauben, dass er der Urheber dieser Lehre gewesen ist. Die Vorstellung von seinem daraufhin erfolgenden Tod reißt ihn in die Gegenwart zurück und er findet sich gekreuzigt und in den letzen Zügen liegend, der Engel, der in seiner bürgerlichen Existenz sein Schutz war, offenbart sich ihm als seine Gefährtin, die ihm versichert, dass nun alles seinen von Gott gewollten Gang gehen würde, weil er die letzte Versuchung bestanden habe. … denn es ist alles ein Ende und alles ein Beginn – schließt das Buch.
Die Studien, die Kazantzakis für dieses Buch betrieben hat, gehen weit über den Rahmen bloßer Bibelarbeit hinaus. Man findet rabbinische Literatur ebenso darin wie den Geist Qumrans wie ihn seine Zeit verstand und mengenweise von der Kirche teilweise sogar verdammtes apokryph christliches Gut. Aber das Buch ist kein bloßes Kompendium von Fragmenten und kontextualen Bezügen, es ist wie alle Bücher von Kazantzakis, ein sehr persönliches Bekenntnis nicht so sehr zu einer Gestalt, als vielmehr zu einem Phänomen, nämlich dem des Sendungsbewusstseins. Dabei wird der Kosmos des Sendungsbewusstseins in all seinen Facetten durchdekliniert: innere und äußere Faktoren, Zweifel und blinder Glauben, Selbstzweifel und Selbstvertrauen stoßen sich eng im Raum und verletzen einander auch dann und wann. Sendungsbewusstsein, das Bewusstsein, mehr zu wissen und zu sehen als andere und es ihnen sagen zu müssen, trifft auf alles, was in uns und außerhalb von uns dem entgegen steht: die Selbstgerechtigkeit die ihm entgegen schlägt genau so, wie die Selbstgerechtigkeit in der eigenen Brust, die das Ergebnis der Sendung immer wieder in Frage stellt und den Menschen zwingt, es wiederum zu prüfen: hält es noch stand, ist es noch echt? Oder ist es nicht besser, in der Menge unterzutauchen, sich zu verstecken, zu sein wie alle, ein gutes, glückliches Leben zu führen und die Sendung nur als privates, tief verborgenes Gut mit sich zu tragen wie das verborgene Talent, das nie gemehrt wurde? Wer eine Botschaft hat, soll er sie künden oder soll er sie verbergen, ist die Frage, die bereits am Beginn des Buches auftaucht und welche Folgen hat es, wenn er sie verkündet und welche wenn er sie verbirgt? Beide Möglichkeiten werden erbarmungslos verfolgt: die Offenbarung führt ans Kreuz, das Verbergen führt in einen frustrierenden Tod, denn die Botschaft wird zwar offenbar werden, aber in der falschen Hand wird nur Falsches dabei herauskommen. Der biblische Jesus steht exemplarisch für dieses Sendungsbewusstsein und seine Gefahren, die inneren wie die äußeren. Er scheitert entweder äußerlich an der Selbstgerechtigkeit der Anderen oder, schlimmer, er scheitert innerlich, am eigenen Wunsch nach einer Durchschnittlichkeit, die er nicht haben kann.
Es wäre Kazantzakis sicher keine Entscheidungshilfe gewesen, hätte er gewusst, dass seine Gestalt in Wahrheit niemals gekreuzigt wurde, denn die Szenerie der Kreuzigung ist ihm nur ein Gleichnis für das, was dem Verkünder unbequemer Wahrheiten selbst dann droht, wenn eine gläubige Menge in ihm den Sohn Gottes sieht. Es gibt keine Ausnahme von der Regel des Zebedäus, der, wunderbare Szene, seinen Stein selbst dann noch in der Hand behält, als alle anderen ihre schon längst kleinlaut beiseitegelegt haben. Die Regel des Zebedäus aber ist die vorherrschende und wenn Jesus sie hier einmal überwindet und sich auch gleich einen Feind damit macht, dann ist dies das Wunschdenken des Kazantzakis – in Wahrheit steht Zebedäus nicht allein da, wie man dann in den Szenen auf Golgatha erleben kann. Man muss dann eben auch konsequent sein und das ist Jesus in der letzten seiner Versuchungen nicht: er hat dies Leben eines Wanderlehrers geführt, ja, aber er distanziert sich nunmehr von diesem Leben, lässt es im Stich und überlässt es auf diese Weise dem Paulus, der es entstellt und verzerrt. Sich zu entsetzen hilft nichts mehr, denn mit der Distanzierung von der Lehre ist auch jegliche Vollmacht und Verfügung über sie verloren gegangen. Bleibt bei dem, was ihr als wahr erkannt habt und verkündet es ohne Scheu, mögen euch auch noch so viele Zebedäus und Pilatus begegnen, sonst fällt es am Ende noch einem Paulus in die Hand und dann „gute Nacht!“, die Lehre Jesu wird zum Christentum. Der Mensch Jesus wird zum unnahbaren und unantastbaren Gott des Dogmas.
Aber ist es denn unvermeidlich, dass Leiden die Konsequenz des Sendungsbewusstseins ist? In gewisser Weise schon, man wird es, auch wenn man es nicht mit dem Leben bezahlt, anders als andere zu sein, auf eine Art immer bezahlen müssen, sofern man sich selbst treu zu bleiben wünscht. Denn Selbstgerechtigkeit und Selbstzufriedenheit sind Eigenschaften, die angefragt, sich als durchaus labil erweisen und auf jede Beunruhigung aggressiv reagieren. Wer aber diesem Druck nachgeben möchte, der muss damit rechnen, dass er selbst zum Totengräber seines Lebenswerkes wird und dass ihm das nicht einmal als unangenehm erscheinen wird, vielmehr als die Erfüllung aller seiner insgeheim gehegten Wünsche. Er wird, was ihm eben noch wichtig erschien, ohne größere Gefühlsregung begraben können, ja er wird sich gegen unbequeme Mahner kühl und kurz angebunden erweisen, so wie Jesus in der Geschichte auch hier und da einen Mahner von der Türe weist.
Aber die Katastrophe ist ja nicht geschehen – oder ist sie doch geschehen? So wie Jesus in Wahrheit nicht gekreuzigt wurde, seine Lehre über Jahrhunderte nicht öffentlich geächtet wurde und erst durch das Christentum der öffentlichen Ächtung anheimfiel, sieht es erst einmal nicht so aus, zumindest sieht es nicht so aus, als wäre sie von innen heraus verraten worden. Aber eine andere Katastrophe mag sich anbahnen: dass sie nun sozusagen postum im Bestreben eines Menschen untergeht, der genau dieser Versuchung des kleinen Glückes erlegen ist… dabei lassen sich großes und kleines Glück doch, wie Thomas Mann uns zeigt und etliche „Piraten des Geistes“ uns gezeigt haben, auch durchaus miteinander vereinen…. nur macht das ein wenig zusätzliche Arbeit, denn es verlangt, dass man auch im kleinen Glück das große nicht aus den Händen gibt…. auch nicht dann, wenn es anscheinend schwierig wird, beides zu vereinen. Anders als hier durch Kazantzakis vorgestellt, geht es immer, aber – es verlangt auch die dazu geeigneten Menschen, eben jene „Piraten des Geistes“ die Kazantzakis so geliebt hat.
Berlin im Juli 2014
© Juliane Bobrowski

 

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