26.05.2014

Gnostisierendes Christentum als Gnosis – eine bewusste Irreführung?

Gnosis, also die Methode der Selbsterkenntnis, ist weder eine Religion, noch eine Philosophie, denn sie verehrt keinen Gott, sie erklärt auch nicht die Welt. Sie ist schlicht eine Methode, mit welcher der Mensch seine wahre Natur erkennen kann – auch diese aber erklärt sie ihm nicht. Im Vollzug der methodischen Schritte soll er sie vielmehr selbst erkennen und dabei so wenig wie möglich vorbeeinflusst werden. Nur die Wirkung, welche die Selbsterkenntnis auslöst, wird – übrigens in bis heute zutreffender Weise – beschrieben.
Nun wird unter dem Stichwort Gnosis heute aber eher eine mystische Religion geführt, die alle Elemente einer solchen in sich vereinigt: sie besitzt eine ausgearbeitete Mythologie, kann einen Gott benennen, dem sie dient und den sie verehrt, sie besitzt eine Kosmologie und eine Kosmogonie, also eine Lehre von der Weltentstehung und eine von der Beschaffenheit der Welt, eine Heiligen- und Engellehre mit entsprechender Dämonologie, sie besitzt einen Vorrat an Sakramenten und Sakramentalien, bildet Gemeinden, besitzt eine Eschatologie, also eine Lehre von der Erlösung durch die jeweiligen Sakramente, sie besitzt Gebete, heilige Schriften, sie veranstaltet Opferhandlungen, baut sogar Tempel und andere Gemeinderäume, kennt einen Klerus und klerikale Ränge und so fort, man wird alles finden, was man heutzutage gewohnt ist, bei einer Religion vorzufinden. Seit der Antike ist diese Religion nachweisbar und in kleinen Teilen gibt es sie noch heute.
Wie ist es dazu gekommen?
Unter den Schülern des jüdischen Lehrers Jesus ben Josef war wie wir wissen, auch ein Simon, der den Meister zwar in nichts begriff, aber glühend verehrte. Dieser Simon sammelte nach Jesu Weggang diejenigen seiner Schüler um sich, die ihn ebenfalls nie begriffen hatten – das waren nicht wenige – und begründete mit ihnen eine neue messianische Sekte innerhalb des Judentums. Zu dieser Sekte stießen mit der Zeit andere jüdische Sekten mit ihren jeweiligen Messiassen, die mit der Messiasgestalt des Simon verschmolzen. Die wachsende Sekte aber begriff sich selbst noch immer als dem Judentum zugehörig, ja als dessen legitime Fortsetzung unter den Bedingungen der immer mehr ausgreifenden Diaspora. Dabei sind einige unschöne Dinge passiert, zum Beispiel wurde der wahre Gehalt der Lehre Jesu mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt und durch Wundergeschichten und möglicherweise sogar stattgehabte messianisch bedingte Hinrichtungen zur Römerzeit ersetzt, jüdische Riten und Feste wurden adaptiert und mit einem neuen, christlichen Sinn versehen, das Ganze des mosaischen Gesetzes aber als mithin erledigt und nicht mehr verbindlich betrachtet. Was da entstand war, wir sehen es schon, das Christentum wie wir es mehr oder weniger noch heute kennen.
Nun war das Christentum dieser Tage (und es ist bis heute so geblieben) keine homogene Angelegenheit, sondern eine äußerst heterogene religiöse Strömung, die nur durch das Bekenntnis zu dem Messias Jesus Christus mehr oder weniger notdürftig zusammen gehalten wurde. Darunter gab es Gruppen, die sich mehr an die jüdischen, mehr an die hellenistisch religiösen und mehr an die philosophischen Aspekte hielten und sich entsprechend profilierten. Manche dieser Gruppen, die besonders ehrgeizig waren, versuchten, ihr Image mit Anleihen aus der modernsten philosophischen Schule aufzupolieren, wir kennen sie heute als Neuplatonismus, aber das ist ein moderner Begriff, unter dem sie sich selbst nicht eingeordnet hat. Dem geistigen Anspruch dieser ganz modernen und übrigens sehr anerkannten Bewegung wurden diese Gemeinden zwar nicht gerecht, aber wie das Johannesevangelium, das aus diesen Kreisen stammt, zeigt, gingen sie dabei durchaus mutig vor, indem sie versuchten, das Christentum mit dieser so ganz anderen Gedankenwelt zu verbinden und selbst dabei an Ansehen zu gewinnen. Was sie dabei gewannen war aber nur der Argwohn und bald der blanke Hass ihrer mehr dem Judentum verbundenen Glaubensgenossen, von denen sie intern angefeindet und späterhin direkt verfolgt wurden, sodass sie gezwungen waren, eine Art Untergrundkirche zu begründen. Mit der eigentlichen Gnosis hatten und haben sie nichts gemein, sie waren eine genuine Religion innerhalb des christlichen Spektrums und sind es wo sie noch bestehen, noch immer.
Als im Jahre 390 unserer Zeitrechnung das Christentum zur alleinigen Staatsreligion erklärt wurde, zogen sich diese Gemeinden in unzugängliche Gebiete des oströmischen Reiches zurück und lebten dort teils als Bogomilen, also Gottesfreunde, im slawischen Bereich vor allem auf dem Balkan, aber auch als Paulikianer im Inneren Kleinasiens ihrem aus Christentum und hellenistischer Sphärenspekulation sowie Relikten antiker Mysterien gemischten Glauben. Im zehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung brach eine große Verfolgung über sie, die mittlerweile (im Zusammenhang mit dem Bilderstreit) aggressiv und anmaßend geworden waren, herein, vor der einige bogomilische Gläubige nach dem Westen flohen, wo sie endlich auf die letzten wirklichen Gnostiker stießen, die ihre Arbeit auf dem Gebiet des ehemaligen Galliens bis dahin unangefochten getan hatten. Im folgenden Jahrhundert gelang es ihnen, die meisten Credentes und auch die Mehrheit der Bonshommes auf ihre Seite zu ziehen und die Bewegung zu spalten, was in der Folge ihren Untergang in der Provençe und im Westen Europas bedeutete – im Untergrund bestanden einzelne Gruppierungen allerdings fort und bereiteten den Boden für die Reformation.

Nun müssen wir einen großen Sprung ins neunzehnte Jahrhundert tun. Denn in diesem Jahrhundert wurden im Zusammenhang mit christlicher Quellenforschung auch einige ihrer Hinterlassenschaften wieder entdeckt und auch ganz richtig als Religion ausgemacht und so bewertet. Der einzige Fehler der Entdecker war, dass sie diese Hinterlassenschaften als Erbe der Gnosis definierten, was sie nicht waren. Aber genuin gnostische Schriften waren zu dieser Zeit noch nicht entdeckt worden, sie kamen erst mit der Entdeckung der Bibliothek von Nag Hamadi spärlich ans Licht. Zu dieser Zeit war der Begriff der Gnosis aber bereits in Richtung auf das gnostisierende Christentum festgeschrieben, sodass die wahre Bedeutung von Texten wie dem Thomasevangelium, in seiner Folge aber auch dem Kommentar des Philippos und wenigen anderen Texten, nicht erkannt werden konnte. Zwar fiel auch den neutestamentlichen Forschern der Unterschied zum Beispiel des Thomasevangeliums zu den gnostizistischen Schriften auf, aber sie wussten mit diesem Unterschied nichts anzufangen. Erst ein unbefangenes Herangehen, frei von theologischen Vorurteilen, ermöglichte es, den Text als das zu identifizieren, was er ist: die einzige Zusammenfassung der originalen Lehre Jesu, die auf uns gekommen ist. Dass es einst mehr von dieser Lehre gegeben hat, können wir getrost annehmen, schließlich wurde sie bis ins hohe, teilweise bis ins späte Mittelalter hinein aktiv gelehrt und betrieben, wofür es reichlich Indizien gibt. Indessen – das Vorurteil in der Definition blieb, einmal gefasst, bestehen und mehr noch, auch Gruppierungen, die zur offiziellen Kirche in Opposition standen, befassten sich mit diesen Texten und formten mehr oder weniger, meist mehr phantastische Gedankengebilde daraus, die sie ihrerseits als Gnosis bezeichneten, obgleich sie mit derselben noch weniger zu tun hatten, als die originalen Texte. Ein wahrer Hexensabbat von Sekten unterschiedlichster Akzentuierung, von mystischer Christlichkeit bis zu glühender Satansverehrung entstand aus diesem Streben nach Opposition zu einer Kirchlichkeit, die sich im neunzehnten Jahrhundert bereits inhaltlich überlebt hatte und nur noch von der Wiederholung des immer Gleichen lebte. Von Gnosis ist aber in allen diesen Sekten nichts zu sehen und nichts zu spüren, es sind bunte Pilze, die an einem faulenden Stamm, nämlich den Kirchen des neunzehnten Jahrhunderts, gedeihen und die auch an den jungen Trieben nicht gedeihen können, die seit den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts aus der alten Wurzel des Christentums ausgetrieben sind. Es sind insgesamt verlorene Kinder einer verlorenen Epoche. Aber der eigentlichen Gnosis verderben sie leider den Ruf indem sie sich selbst unzulässiger Weise als solche bezeichnen. Daher kann hier nicht mit der sonst gebotenen Toleranz gearbeitet, sondern muss leider entschiedene Abgrenzung betrieben werden.

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