24.05.2014

Zur Berichtigung einiger grundlegender Irrtümer über die Katharer

1. Die Katharer sind eine religiöse Bewegung, die vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Südfrankreich, vornehmlich in der Provençe, entstanden ist und ab der Mitte des 13, Jahrhunderts als ausgerottet bezeichnet werden kann.
In dieser Aussage sind gleich mehrere Irrtümer enthalten. Zum Ersten waren die Katharer (die sich selbst nicht so nannten), keine religiöse Bewegung. Zum Zweiten waren sie keine Bewegung des Mittelalters. Zum Dritten kann ihr Wirkungsbereich bis in die Mitte Europas hinein und zum Vierten weitaus länger als bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts verfolgt werden.

Katharer – oder Menschen, die späterhin so genannt wurden – gibt es im Süden Frankreichs seit dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Im zweiten Jahrhundert hat der Kirchenvater Irenäus in seiner Diözese Lyon (Lugdunum) nachweislich mit ihnen zu tun und verfasst ihretwegen seine große Apologie „Adversus Hareses“. Sie gehen wahrscheinlich auf eine Gruppe zurück, die den Auszug Jesu aus dem römischen Gebiet nicht mitmachte, sondern in Massilia und also in der Gallia Narbonensis zurück blieb. Haupt der Gruppe war wahrscheinlich die Miriam(Mariham) des Thomasevangeliums. Verstreute Legenden bewahren noch heute einen Schatten der Ereignisse, ohne sie freilich selbst genau benennen zu können und das entsprechende Schrifttum der Katharer selbst ist dank der unendlichen Mühen der katholischen Inquisition auf immer verloren. Die Katharer sind also eine antike Bewegung und existierten bereits tausend Jahre, ehe im zehnten Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Kirche auf sie fiel. Das bedeutet, dass ihre Existenz bis dahin die Kreise der Kirche nicht gestört hat.

Dies wiederum ist auf ihre Organisationsform zurück zu führen, die auch in kirchlichen Kreisen hinlänglich bekannt ist. Den innersten Kreis bildeten die eigentlichen Katharer, die Bonshommes oder Guten Menschen. Um sie herum bildeten sich informelle Kreise sogenannter Credentes, die von den Bonshommes seelsorgerisch betreut wurden, im Übrigen aber Mitglieder der Kirche blieben und alle ihre Regeln befolgten. Es mag auch richtig sein, dass die Credentes den Bonshommes die Sorge darum anvertrauten, ihre Seelen ins Paradies zu befördern, wenn ihre Stunde kam. Die Bonshommes hingegen ließen den Erfolg dieser Aktion stets offen und bestanden nicht darauf, wollten den ihnen Anvertrauten – und Vertrauenden – die Hoffnung aber auch nicht nehmen. Ihr Hauptaugenmerk aber richteten die Bonshommes auf die sittlich – moralische Vervollkommnung und Belehrung der Credentes – soweit das unter den Bedingungen der römischen Antike und des frühen sowie des hohen Mittelalters möglich war. Irgendwelche Regeln oder Verhaltensvorschriften machten sie den Credentes nicht.

Etliche Indizien sprechen dafür, dass die Bonshommes in ganz Europa und keineswegs nur im Süden Frankreichs tätig waren. Belege für ihre Anwesenheit gibt es vor allem in Mitteldeutschland, aber auch, wie man hört, in den Niederlanden und sowieso auf den britischen Inseln, dem Missionsgebiet Jesu. In Naumburg, Halberstadt, Reinhausen, sowie im Raum Frankfurt/Main sind sie auf jeden Fall dingfest zu machen, inwieweit sie später auch Böhmen durchdrungen haben, ist zwar nicht mehr direkt nachzuweisen, aber anhand der allerdings nachträglich christianisierten Geschichte der Taboriten anzunehmen. Dabei sind die sogenannten Lombarden noch gar nicht in diese Verbreitungsgeschichte einbezogen, weil ihr Ursprung nicht in den provençalischen, sondern in kleinasiatisch – syrischen Gruppierungen zu suchen ist, die sich vielfach von der Charakteristik der gallischen Katharer unterscheiden. In diesen Verzweigungen sind sie bis ins fünfzehnte Jahrhundert nachweisbar und bilden eine der Hauptquellen für die Sympathisanten des frühen Protestantismus.

2. Die Katharer hielten Rituale ab, ihr größtes Ritual war das Consolamentum.

Noch ein Irrtum. Die Katharer hielten überhaupt keine Rituale ab. Ihr Ziel war die Gewinnung neuer Bonshommes, Männer wie Frauen, die ja bei ihnen die gleichen Recht – und Pflichten – hatten. Solche neuen Bonshommes wurden in einer Art Noviziat auf den Augenblick der Selbsterkenntnis vorbereitet. War dieser Augenblick geschehen – was dabei geschah, bleibe ungenannt – wurde der neue Bonshomme in einer feierlichen Veranstaltung sämtlichen Katharern und Credentes der Umgebung vorgestellt und öffentlich in ihren Kreis aufgenommen. Dabei ging es allerdings nicht um ein metaphysisches Ritual, sondern um eine Art Adoptionszeremonie, deren Vorbild die römische Adoptionszeremonie war. Der Neue wurde aus seinen bisherigen sozialen Bindungen entlassen und in die „Familie“ der Bonshommes adoptiert, denn ohne soziale Bindung war er nicht respektabel. Als äußeres Erkennungszeichen erhielt er Kutte und Strick, sowie in einigen Gemeinschaften späteren Zuschnitts, die Erlaubnis, das Vaterunser zu beten… allerdings kannten die eingesessenen Bonshommes diesen Brauch nicht, weil sie das Neue Testament nicht akzeptierten. Auch die vielzitierte Brotbrechung war kein Ritual, sondern eine einfache Gemeinschaftshandlung. Irgendwelche metaphysischen oder religiösen Absichten waren damit nicht verbunden. Nach dem Vortrag eines Bonshomme wurden damit die Gemeinschaft untereinander und mit ihm betont so wie man sich heute noch in manchen Gemeinden nach dem Gottesdienst (aber das war keiner) zum „Kirchenkaffee“ zusammensetzt. Das vielzitierte Melioramentum ist ebenfalls kein Ritual, sondern bezeichnet als Oberbegriff alle seelsorgerischen Aktivitäten zwischen einem Bonshomme und seinen Credentes. Es ist auch keine Beichte – denn die Bonshommes pflegten miteinander einen sehr vertrauten informellen Kontakt und vertrauten einander alles an. Der Begriff der Sünde war ihnen im Übrigen fremd.

3. Die Katharer lebten asketisch
Ja, das stimmt. Aber damit lebten sie nicht besser und nicht schlechter als ihre Umgebung, denn Fleisch kam auch dort kaum je auf den Tisch, die tägliche Nahrung bestand aus Getreide und Gemüsen, allenfalls gab es Käse und Fisch dazu und all das war den Katharern ebenfalls erlaubt. Das übliche Getränk war nicht Wasser, sondern ein dünnes Bier, aber auch verdünnter Wein (Schorle) war nicht verboten. Katharer unterwegs aßen, was man ihnen vorsetzte, also auch Wurst und Fleisch, wenn sie es denn bekamen. Wahr ist allerdings, dass sie ehelos lebten. Der Grund hierfür ist nicht, wie behauptet wird, Feindschaft gegen die Sexualität, sondern der Umstand, dass sie sich nicht mehr als Teil dieser Welt sahen. Der Entwicklung inniger freundschaftlicher Beziehungen stand nichts im Wege und eventuell darüber hinausgehende Wünsche wurden auf andere Weise abgegolten.
4. Die Katharer lebten nach dem Johannesevangelium
Falsch. Die Katharer anerkannten keine der biblischen Schriften. Sie anerkannten nur ihr eigenes Schrifttum, das sehr umfangreich war, und als Basis bezogen sie sich auf das heute so genannte Thomasevangelium, das bei ihnen beinahe kultischen Charakter besaß, da es die originalen Lehren Jesu enthielt – der für sie übrigens nicht der Sohn Gottes war und auch nicht der Messias, der nicht am Kreuz gestorben war und auch die Welt nicht erlöst hatte, sondern der viel mehr getan hatte: den Menschen den Weg geöffnet, auf dem sie zu ihrer wahren Natur gelangen konnten. Mit dem – zusammengerollten und in ein Futteral gesteckten –Thomasevangelium (es umfasst nur wenige Seiten) wurden die Neuen in die Gemeinschaft hinein adoptiert, indem man sie an der Stirn oder – bei Frauen – an der Schulter damit berührte. Es vertrat hierbei die Stelle des Stabes, mit dem bei den Römern der Richter die Adoption vollzogen hatte. Ansonsten wurde davon nicht ausdrücklich gesprochen und die Literatur der Katharer – immerhin ein Jahrtausend umfassend – ging an vielen Stellen über dasselbe hinaus in andere Bereiche des Wissens hinein. Als sie aber von den Inquisitoren gefragt wurden, woher sie denn einige auch aus dem Neuen Testament gut bekannte Sätze kannten, da antworteten sie wahrheitsgemäß: aus der Schrift des Jüngers, den Jesus liebte. Die Inquisitoren waren es, die daraus dann das Evangelium des Johannes machten, weil sie gewohnt waren, es so aufzufassen, dass „der Jünger den der Herr liebte“ eben Johannes der Evangelist zu sein hatte, wozu das Johannesevangelium mit seinen absichtsvollen Fälschungen ja auch verleitet. Aus diesem Missverständnis resultiert dann übrigens auch die Definition des Katharismus als einer christlichen Sekte – er war das niemals und wollte es auch nie sein.
Allerdings kannten die Katharer die Bibel sehr gut – sehr viel besser als ihre Widersacher ihre, der Katharer Literatur kannten. Und so mögen sie sich zuweilen in der Sprache der Bibel ausgedrückt haben, wenn es darum ging das eigene Leben zu retten. Anfangs waren sie ja noch davon überzeugt, dass es um Argumente ginge. Erst der Fortgang der Angelegenheit überzeugte sie davon, dass es um ihren Tod ging – woraufhin die Klügeren unter ihnen die Flucht vorzogen und sich auf abenteuerlichen Wegen über ganz Europa verteilten. Aber nicht alle flohen, denn..
5. Die Bewegung des Katharismus war einheitlich
Das war sie eben nicht. Erstens deshalb nicht, weil jeder Bonshomme Lehrfreiheit besaß. Zweitens aber, und das war schwerwiegender, weil im zehnten Jahrhundert eine tiefe Spaltung der Katharer begann. Grund war die Begegnung mit aus Byzanz geflohenen Bogomilen, Geistesverwandten also und doch keinen Geistesverwandten, denn der Katharismus hatte bis dahin alles, was wir unter dem Begriff der klassischen Gnosis kennen, gemieden. Was da einsickerte, WAR eine Religion, eine, die an Demiurgen, die an Archonten, an Wächterdämonen und Höllenfratzen glaubte, die ihre Verachtung der Welt aggressiv zur Schau trug und keinen Wert mehr auf die wahre Natur des Menschen legte, sondern nur noch darauf, dass er den rechten Glauben haben möge. Aber die Welt, die sich hier eröffnete, war dem Menschen des Mittelalters vertrauter als die lichte Welt der Antike und so fanden die aus Byzanz Flüchtigen nicht nur ein Obdach, sondern auch Interesse – die Bewegung spaltete sich in die aggressiven Jünger des Niketas und die maßvollen Schüler der Esclarmonde. Die Schüler des Niketas waren es auch, die gegen die katholische Kirche hetzten und zu Übergriffen herausforderten – die genau das waren, was man auf katholischer Seite brauchte um gegen die Katharer endlich loszuschlagen.

Auf dem Höhepunkt der Krise kam es zum Konzil von St Felix de Caraman, und, tragische Klimax, die Jünger der Esclarmonde wurden überstimmt, man erklärte sich mehrheitlich für Niketas. Damit war der Untergang der Katharer in der Region vorprogrammiert und er ließ nicht auf sich warten, schon ein halbes Jahrhundert später war der Katharismus aus der Provençe verschwunden. Anderswo hielt er sich länger, so bei den Brüdern und Schwestern vom Freien Geist, die mit der Beghinen- und Begharden – Bewegung verbunden sind, bei den Taboriten, wo auch dieser Katharismus zum ersten Mal aggressive Züge annimmt, ebenso an den schon längst traditionellen Orten in Mitteldeutschland, wo die Botschaft Jesu seit den Tagen Ottos des Großen bekannt war. Theophanu, die Gemahlin Ottos II, brachte das erste Thomasevangelium nach Deutschland, der Einband dessen existiert, wenn auch arg verschandelt, bis heute im Domschatz von Halberstadt am Harz. Immerhin, er ist aus Elfenbein und damit kostbarer als Gold und so war es wohl auch gemeint. Und er zeigt den „Apostel“ Thomas auf der Frontseite. Das letzte Exemplar besaß Thomas Müntzer im sechzehnten Jahrhundert. Es ist nicht erhalten, aber vielfach als sein Besitz bezeugt.

Lassen wir es bei diesen generellen Richtigstellungen erst einmal sein Bewenden haben. Und vergessen wir beim Studieren der Inquisitionsunterlagen niemals, dass es katholische Theologen waren, die diese Protokolle führten und das nur selten Bonshommes ihre Opfer waren, meist waren es weitaus weniger eingeweihte Credentes. Nur an ganz seltenen Stellen spricht uns katharisches Wissen ganz unvermittelt an wie in den Worten jenes Schäfers, der sich über die – bis heute gültige – Lehre von der Seele verbreitet; sicher zum Entsetzen der Inquisitoren:

Der Schafhirte Pierre Maury zu Jacques Fournier: »Es gibt im Menschen zwei verständige Substanzen, das heißt zwei Seelen, oder eine Seele und einen Geist. Die eine bleibt im Menschen solange er lebt, aber der andere, der Geist, kommt und geht und bleibt nicht ständig im Menschen. So geschehen die Vorstellungen (imaginatio), die Träume, die Gedanken und alles was das Denken berührt durch den Geist. Durch die Seele tut der Mensch nur leben.«

 

 

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