8.08.2012

Die bereits in der Antike verfolgte Gnosis

Manche sagen, die Gnosis hätte von Anfang an zu den verfolgten Bewegungen gehört. Welch ein Unfug. Wir wissen vom Krieg der Christen gegen die Gnosis.Die beiden,  Christen und Gnostiker, vertrugen nicht allzu gut und es wäre auch ein Wunder, wenn sie sich jemals vertragen könnten, und sicher brach, nachdem „Heidentum“ und Philosophie durch Theodosius aus Rom vertrieben worden waren, allmählich Verfolgung über sie herein – aber dass Gnosis von vornherein immer und jederzeit von den Christen und gleichermaßen vom römischen Staat verfolgt worden wäre, ist ein Mythos, der angesichts der römisch – hellenistischen Kulturgeschichte unhaltbar geworden ist. Man bedenke: wer war Rom und welcher Machtfaktor waren demgegenüber  – bis zu Konstantin – die Christen?

Im Gegenteil – es steht zu vermuten, dass die Umstände eher umgekehrt gewesen sind, Gnostiker nämlich erheblichen Anteil an der Verfolgung gehabt hat, die bis zu Konstantin I immer wieder über die wachsenden Christengemeinden hereinbrach. Denn immerhin hatten sie und sie allein jene Kompetenz, die aus der Kenntnis einer gefährlichen Lehre erwächst und konnten sich entsprechend Gehör verschaffen, reichte ihr Einfluss doch seit langem in die hohe Politik des römischen Reiches hinein. Unter diesen Umständen ist auch die helle Wut verständlich, mit dem die neue Amtskirche dann vereint mit der weltlichen Macht über die Gnosis herfiel. Aber der Traum von den armen Schafen, die da mitleidslos von den bösen Wölfen zerfleischt wurden, dürfte nun ausgeträumt sein. Vielmehr war das Verhältnis dann wohl ausgeglichen und waren die Einen mit den Anderen quitt.

Den Beginn dieses Einflusses finden wir bei Kaiser Claudius. Aber Claudius hat nicht gezielt Kontakt mit den Schülern des „Chrestos“, des Menschen mit der nützlichen Lehre, aufgenommen, vielmehr kam er wohl durch einen Zufall auf dieselbe. Es gab eine „chrestische“ Schule in Rom, wie es dort viele philosophische Schulen gab, die miteinander um Schüler – und Geldgeber – konkurrierten. Wie es genau sich abgespielt hat, wissen wir nicht mehr, aber Juden und „Chresten“ gerieten aneinander und irgendwie kam die Sache vor den Kaiser. Anzunehmen ist, dass die Juden, als „erlaubte Religion“ sich provoziert fühlten und beim Kaiser auf ihr Recht pochten – jedenfalls wäre das plausibel. Impulsore Chresto[1] müsste man dann nicht „auf Antreiben des Chrestos“ lesen, sondern „auf Veranlassung eines Chresten“. Auf Veranlassung eines Chresten vertrieb Kaiser Claudius die Juden aus Rom – nämlich auf die andere Seite des Tiber, wo sich dann auch lange Jahrhunderte hindurch das römische Judenviertel befunden hat. Dort entstanden dann auch die ersten christlichen Gemeinden als Derivate der jüdischen und wenn Simon jemals nach Rom gekommen sein sollte, dann hat er dort seine Missionsarbeit betrieben – Die Stadt interessierte sich noch lange nicht für seinen Messias. Wenn die Juden sich provoziert gefühlt hatten, ging ihr Appell an den Kaiser also wie man so sagt, nach hinten los. Eine ohnehin nicht eben wohlgelittene Sekte hatte nach einer Vereinigung anständiger Philosophen geschnappt und Claudius, der alle Philosophie hoch achtete, aber wie (beinahe) jeder Römer in Sachen Judentum mehr als skeptisch war, nahm da von vornherein Partei. Aber seither war die nützliche, brauchbare Philosophie ins Rampenlicht des Kaiserhofs getreten und da sie den griechischen Philosophien ähnelte, besonders der des Lieblingsphilosophen der Kaiserin Agrippina, Lucius Annaeus Seneca, sollte sie von da an nie mehr aus dem Dunstkreis des kaiserlichen Hofes verschwinden.

Nun war beileibe nicht jeder Kaiser ein bekennender Philosoph[2], die meisten waren es gerade nicht, aber alle Kaiser hatten Mitarbeiter und unter diesen galt die neue Philosophie, eben weil sie so brauchbar war, bald als „die Philosophie“ überhaupt, neben der man sich aber natürlich auch mit allen anderen philosophischen Richtungen befassen konnte an denen die römisch – hellenistische Kultur reich war. Demgegenüber stand das neue Christentum, nachdem die Juden sich von ihm distanziert hatten[3], ziemlich auf verlorenem Posten. Das Beste, was es von der römischen Administration zu gewärtigen hatte, war, dass man es vergaß. Wenn  es sich nicht bemerkbar machte, war man auch willens, es zu vergessen. Aber leider brachten sie sich selbst wieder in Erinnerung und das kam so: seit geraumer Zeit kam das Reich mit den aus Osten und Norden andrängenden Völkerschaften nicht mehr zurande, eine verfehlte Politik und zugleich eine Periode innenpolitischer  Labilität[4] taten das Übrige, kurzum das Reich stand kurz vor einer schweren Staatskrise oder schwamm schon mittendrin, gleichviel, in diesem Augenblick  verordnete Kaiser Decius der gut konservativ das Heil in einer Rückwendung aller Römer zu den alten Göttern sah[5], dem ganzen Reich, dessen Bewohner seit Caracalla alle römische Bürger waren, ein Opfer an den kaiserlichen Genius, um dessen magische Macht wieder zu stärken. Er hatte es mitnichten auf die Christen abgesehen, sondern wollte auf diese Weise die Hilfe der Götter erzwingen. Aber die Christen verweigerten in stattlicher Zahl das Opfer und schummelten in noch stattlicherer Zahl und als Decius sah, wie sie dem Wohl des Staates Schaden zufügten schlug er zu wo immer es sich ergab. Wer nicht opfern wollte, war gnadenlos des Todes, denn er war ein Staatsfeind und Staatsfeinde konnte sich Rom jetzt weniger leisten als je. Vorbei die Zeit der Duldung, jetzt ging es ums Ganze und wer sich drückte, war ein Verräter, der Roms Großzügigkeit im Umgang mit fremden Gottheiten missbrauchte.

Kaiser Decius‘ Gegner im eigenen Staat sahen aber gerade dadurch, wie groß das Potential der Staatsfeinde war und versuchten, die Christen in ihren persönlichen Ehrgeiz, auch einmal selbst Kaiser zu werden, einzubinden und so kam es zu einer Schaukelpolitik mal für, mal gegen diese Religion. Waren die sogenannten Verfolgungen des Nero, des Domitian, des Trajan und auch die des Diokletian[6] mehr oder weniger wenn überhaupt, lokale Pogrome gewesen oder allenfalls politisch motivierte Aktionen, die sich gegen eine bestimmte Partei richteten, so war die Strafaktion des Decius die erste, die diesen Namen wirklich  verdiente, andere schlossen sich nun in schneller Folge an, bis der uneheliche Sohn des Constantius, Konstantin, beschloss, eine grundlegend andere Politik zu machen, in der das trotz allem  erstarkte Christentum und sein Gott sich nun im Dienste Roms bewähren sollten. Die Religion kannte er ein wenig von seiner Mutter her, die er aber früh hatte verlassen müssen, um bei seinem Vater in Trier im Umkreis der höfischen Welt zu leben und wie man sagte, einen anständigen Beruf zu ergreifen, denn es gehörte sich  selbst für den  unehelichen Sohn eines Augustus[7] nicht, in der Gosse zu enden.

Konstantin für seine Person hielt es zwar mit der Philosophie, aber wie die meisten Kaiser und Thronprätendenten hielt er es mit ihr nicht genau, er verließ sich lieber auf seine Freunde und Ratgeber[8]. In dieser Philosophie ist er auch gestorben und was Laktanz schreibt, ist erbauliches  Gewäsch. Konstantin war kein Pionier des Christentums, ja nicht einmal fromm, er war durch und durch Realpolitiker und seine spätere Politik, auch den Christen gegenüber, beweist das[9]. Er bevorzugte sie nämlich keineswegs, sondern achtete nur darauf, dass sie nicht benachteiligt würden, erlaubte ihnen, ihre Kirchen zu bauen und ihre Feste zu feiern, aber behielt sich auch vor, ihre Synoden zu beaufsichtigen, denn der Verdacht, dass sie Staatsfeinde sein könnten, war auch für ihn keineswegs ausgeräumt. Er zog ihre prominentesten Vertreter an den Hof um sie wie es sich für mögliche Feinde gehört, immer unter Aufsicht zu haben, aber er ging auch streng mit ihnen ins Gericht, wenn sie ihre Kompetenzen überschritten und sich in die kaiserliche Innenpolitik einmischten, wie sein Vorgehen gegen Ambrosius zeigt, der ihn dann auch prompt in die Acht erklärte, was Konstantin allerdings persönlich wenig anfocht. Allerdings mochte es sich als wenig klug erweisen, die gerade erst gewonnenen Staatsfeinde wiederum vor den Kopf zu stoßen, also gab Konstantin dem Ambrosius recht und sich selbst die Ruhe – wie der Bischof dies dann seinen Christen verkaufte, fällt vielleicht vor der Kirchen- aber nicht vor der Weltgeschichte ins Gewicht. Auch Ambrosius war an Frieden im Reich gelegen. Er war Staatsbeamter gewesen, ehe er Bischof von Mailand und damit der nächste Christ am Thron wurde.

Unter Konstantin war es den Christen noch nicht möglich, gegen ihre alten Erbfeinde, die Gnostiker, vorzugehen – aber schon zwei Generationen später sollten sie bekommen, was sie wollten, denn nun drehte sich das Blatt und die zuvor Verfolgten wurden zu Verfolgern. Die gesamte pagane und philosophische Führungselite Roms war durch die Massaker, die Konstantins Regierungszeit folgten, ausgerottet worden und damit waren Philosophen wie Heiden schutzlos. Das traurigste Kapitel der Kirchengeschichte begann – aber nicht vergessen, der Eifer, mit dem dieses Kapitel geschrieben wurde, war vielleicht unverhältnismäßig – ganz ungerechtfertigt war es nicht, die Gnostiker hatten der Kirche in dieser Beziehung schon einigen Anlass gegeben, auf sie wütend zu sein.

Etwas ganz Anderes aber ist es, wenn Gnostiker Teile ihrer Lehren verbargen. Sie taten dies nämlich nicht aus Angst vor Verfolgung. Sie taten es, um Missverständnisse zu vermeiden und manchmal auch, um von Missverständnissen zu profitieren. Auf der anderen Seite ließen sie ihre Überzeugung überall durchblicken wo es anging: zum Beispiel verzierte ein wohlhabender Römer sein Tafelgeschirr mit lauter kleinen Anch im Rankenwerk und Konstantin demonstrierte seine Überzeugung selbstbewusst mit dem  Labarum, in dem die Christen ein Kreuz sehen konnten und sollten und die Anhänger der Philosophie ihr eigenes Zeichen, das des ewigen Lebens. Das Chi Rho verkündete der ganzen gebildeten Welt „Chrestos sum“, ich bin ein Chrest, ein Anhänger dieser jederzeit und überall nützlichen Lebenslehre. Was die Christen daraus lasen, war nicht wichtig und zudem sorgte ihre Verlesung[10] dafür, dass sie dem Nutzer solcher Symbole Sympathie entgegen brachten. War er, von dem manche Weitblickenderen sagten, er sei keiner, nicht doch insgeheim ein Christ? Nein, er war es nicht und er würde es auch niemals werden. Er war ein Offizier mit beachtlichem Talent zum Staatsmann und er wusste seine familiäre Nähe zum Christentum politisch zu verwerten. Aber schauen wir noch ein wenig weiter in der Reihe der sogenannten Tarnungen In den antiken Nekropolen[11] finden wir vielfach Anspielungen auf gnostische Parabeln, wie den Fischer, der den einen großen Fisch[12] fängt. Hingegen sind die Darstellungen des Sonnenwagens, die hier auch hinzugerechnet wurden,  wohl heidnischen oder aber wirklich schon christlichen Ursprungs und haben mit dem berühmten Spruch vom verbergenden Licht nichts zu tun. Man verbarg sich nicht aus Angst vor Verfolgung, sondern man entzog den Bekenntnisfaktor den Blicken derjenigen, die ihn nicht verstehen und daher verfälschen konnten.

 

Dass die Anhänger der nützlichen Lehre sich vor der ungebildeten Masse bedeckt hielten, hatte also einen ganz andern Grund als den der Angst vor Verfolgung: diese Lehre wurde nämlich in ihrem Kern nur von denen verstanden, welche die „Fahrt durch sich selbst“ absolviert hatten. Sie war und ist in sich so fein und zugleich komplex, dass bereits die kleinste Abweichung im Verstehen zum Anfang immer heilloserer Spekulationen werden konnte und kann – was gut zu beweisen ist mit dem,  was die Gnostizisten späterer  Jahrhunderte angestellt haben. Also war es am besten, das Maul möglichst nicht  weit aufzutun um die damals wie heute überall lauernde Dummheit und Sensationsgier nicht noch zu bestärken. Man konnte andererseits  (und kann) von dieser Lehre aus zu allen Wissensgebieten Stellung nehmen, das taten die Gnostiker auch mit einer reichen Forschungs-, Beratungs-  und Lehrtätigkeit auf allen Ebenen und zu allen Aspekten des Lebens – aber die Lehre selbst entzog sich dem oberflächlichen Blick. Natürlich mochten die Christen insbesondere diese Lehre nicht, aber die Christen waren in der Zeit, von der hier die Rede ist, nämlich in den ersten Jahrhunderten  bis zum Edikt des Theodosius ganz oder relativ machtlos. Erst ab dann standen ihnen wenigstens theoretisch die diversen Zwangsmaßnahmen zur Verfügung, von denen der Mythos von der Verfolgung bereits seit den ersten Tagen des Christentums ausgeht[13].

Man darf sich diese Verfolgungen nun nicht etwa flächendeckend vorstellen. Denn im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung florierte in Rom der Manichäismus – in einer Zeit, in der er nach dem Mythos längst hätte verboten und seine Anhänger hätten ermordet sein sollen, waren sämtliche höheren Beamten durch manichäische Ausbildungen gegangen, was im Westen des Reiches so viel bedeutete als: sie waren Gnostiker im wahren und echten Sinne dieses Begriffes. Der Kronzeuge, der uns davon berichtet, heißt Augustinus von Hippo, denn er selbst, berichtet er, gehörte dazu. Es scheint, dass das Edikt des Theodosius außerhalb Konstantinopels herzlich wenig Beachtung fand, denn wie sonst sollte sich eine allbekannt „häretische“ Bewegung sonst derart weit und offen über das Reichsgebiet ausbreiten können. Gut – der Bischof Faustus (Bischof?) wurde auf Betreiben des Augustinus[14] hingerichtet – aber eine ausufernde Hetzjagd entstand daraus nicht, jedenfalls ist davon nichts zu vernehmen und die siegreiche Kirche hätte sich solche  Erfolge doch  nicht entgehen lassen. Selbst im sechsten Jahrhundert also treffen wir noch auf keine allgemeine Verfolgung von Gnostikern. Bildeten sie wirklich, wie behauptet wurde, eine „Kirche in der Kirche“? Der Umstand, dass Augustinus den Faustus als Bischof bezeichnet, lässt es vermuten, dass zumindest die afrikanischen Manichäer kirchenähnliche Strukturen entwickelt hatten – aber ist die Nachricht des Augustinus glaubwürdig?

Die östlichen und die „lateinischen“ Manichäer unterschieden sich, ich sagte es bereits, erheblich voneinander. Während die östlichen Manichäer sich unter dem Einfluss des griechischen Ostens in Richtung auf die dort üblichen Kulte entwickelten und entschieden in die mystisch – spekulative Richtung drängten, dominierte im lateinischen Wesen die strenge Schule philosophischen Vorgehens. Beiden Spektren aber war dies gemeinsam: sie stuften ihre Lehre in bestimmten Dosierungen ab, von denen die „Hörer“ nichts, die „Erwählten“ alles zu sich nehmen durften. Dazwischen standen die nicht näher bezeichneten Auszubildenden. Augustinus war in seiner Manichäerzeit ein Hörer, das bedeutet, dass er vom inneren Wissen der Gnosis keine Ahnung hatte. Daher mag er dann Parallelen zu der Religion gezogen haben, zu der er konvertiert war und Faustus einen Bischof genannt haben, dieweil er in Wahrheit nur einer von vielen manichäischen „Eingeweihten“ und Lehrern war. Aber  – zu verbergen hatten wohl auch diese Manichäer im fünften  Jahrhundert unserer Zeitrechnung und in einem offiziell christlichen Reich lebend, nichts, es sei denn aus den oben genannten Gründen der Miss- und Unverständlichkeit. Dies Verbergen übrigens empfiehlt sich auch heute noch dringend. Was geschieht, wenn auch nur Derivate dessen an eine breite Öffentlichkeit gelangen, kann man am Phänomen der Esoterik anschaulich studieren. Es ist, mit aller Nachsicht, aber aus Erfahrung zu sagen, fürchterlich, was dabei herauskommt. Aber das nur nebenbei zu bemerken.

Dass die Gnosis hingegen im elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung  verfolgt worden ist, darüber kann kein Zweifel bestehen – aber wie man sieht, dauerte es sehr, sehr lange, bis man sich zu derart drastischen Maßnahmen entschloss – was mit Sicherheit auch daran lag, dass die nunmehr in den Untergrund abgedrängte Philosophie sich zu schützen wusste: hier und da gelang es ihr sogar, zur beherrschenden Ideologie einer Kultur zu werden, wie bei den sogenannten Paulikianern im byzantinischen Reich, bei den Bogomilen in Bulgarien und Bosnien, und last but not least bei den provençalischen Kathareren. Später dann finden wir ihre Reste bei den Taboriten wieder und bei den Brüdern und Schwestern vom freien Geist und ist das Gezeter seitens der Christen auch groß, nur selten ergibt es sich, dass massenhafte Verfolgungen wie der Kreuzzug des Innozenz III überhaupt anberaumt werden können; meist steht die Kirche vor Einzelaktionen, die sie nicht oder nur sehr schlecht einordnen kann. Dass diese Einzelaktionen die Spitze eines Eisberges sind, vermutet sie zwar richtig, aber sie bekommt – mit wenigen Ausnahmen – diesen Eisberg nie im Ganzen zu fassen. Mitten vor der Nase frommer Mönche entfalten ketzerische Steinbildhauer ihr Talent und meißeln lauter Anch – Zeichen in die Chorkapitelle das Münsters von Altenberg bei Köln. Gleiches geschieht in Chorin in der nördlichen Mark Brandenburg und die Steinmetzen sind fein raus – lassen sich ihre Werke doch ebenso gut als Symbole der Dreieinigkeit erklären. Die bösen Zungen schweigen und die Wissenden grinsen sich eins, sind doch diese harmlosen Blättchen zwar nicht in Chorin (eben) aber sehr wohl in Altenberg im Chorhaupt der Kirche präsent. Sie stellen das Lebenszeichen auf den Kopf und haben das Kreuz als weltbeherrschendes Zeichen geschaffen, das ohne Arg an jedem heiligen Ort gezeigt werden kann, so in Venedigs Hauptkirche San Marco. Sie sind überall – und sie verleiten mit ihren originellen Ideen auch fromme Leute, es ihnen nachzutun und so überrascht uns ein Anch in aller Deutlichkeit auf dem Altarfenster einer evangelischen Kirche in Berlin – Adlershof. Sie stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Diese und ähnliche Funde können als Dokumente der Verfolgung respektive als Reminiszenzen an die Gepflogenheiten jener Tage gewertet werden – nicht aber jene, die zu einer Zeit entstanden, da die Gnosis allerwegen unangefochten ihre Botschaft verbreiten konnte. Vom Mythos der „ewigen Verfolgung von Anbeginn“ müssen wir uns daher trennen.

Und was war mit den übrigen „abrahamitischen“ Religionen? Das Judentum hat die Gnosis nicht verfolgt, es kannte dieselbe gar nicht und hat niemals einen Zugang zu ihr gefunden, obgleich sie aus seiner Mitte heraus entstand (schließlich war der große  Lehrer und Überträger der Gnosis ins nicht ägyptische Denken, Jesus,  ein geborener Jude) und es auch eine kurze Blüte derselben in Israel gegeben hat. Der Islam hingegen hat ein intimes Verhältnis zur Gnosis – der Prophet Mohammed ist mitten in der arabischen Form der Gnosis aufgewachsen und wurde von ihr gebildet, bis man sich von ihm als einem neuen Religionsstifter distanzierte. Sein Vater, seine Mutter, seine Onkel und auch seine erste Frau gehörten zur Gemeinschaft der Hanifen, die in der arabischen Kultur sozusagen „außerhalb des offiziellen Programms“ nebenher liefen, aber von allen Kultgemeinschaften respektiert wurden. Mohammed tat das, was man mit Gnosis nicht tun soll: er machte eine Offenbarungsreligion aus ihr, die allerdings und das entschuldigt ihn in gewisser Weise, auf einer sehr persönlichen Erfahrung beruht, auf die ihn niemand vorbereitet hatte. Die Hanife, die sich selbst als einen exklusiven Kreis von Philosophen sahen, wussten selbst nicht, welche Kräfte Gnosis zu entfesseln vermag, wenn sie existenziell betrieben wird. Für sie war ihre  Philosophie ein zwar charakterstärkendes und erhebendes, aber doch ganz und gar nur intellektuelles Phänomen. Da der Islam echte Gnosis nicht enthält[15], konnte er sich auch nur bis zur Stufe der frommen Mystik entwickeln, wo er in den „Weisen“ des Islam dann allerdings eine leuchtende Ahnenreihe vorzuweisen hat – die übrigens keineswegs abgeschlossen ist, denn „Sufis“ (von griechisch:  Sophos, der Weise[16]) gibt es in der islamischen Welt überall. Sie bilden keine geschlossene Kaste oder Schicht, sondern können in allen Kreisen der Gesellschaft auftauchen und auch wieder verschwinden, sie können  „Orden“ begründen oder auch ganz einzeln bleiben, Sufis, Weise, sind sie allemal. Der Islam betrachtet diese Weisen zwar mit Misstrauen, aber es besteht kein Grund zur Beunruhigung: den Schritt zur Gnosis kann gerade von der Religion aus niemand tun und so war es auch im Islam niemals nötig, entgegen mancher Annahme, Gnosis zu verbergen – die zugegebenermaßen unbarmherzig verfolgt worden wäre, denn sie beinhaltet per se den Abschied vom Islam. Auch hier also hat es, schon von der Sache her, keine Verfolgung von Gnosis geben können, einfach deshalb, weil gar keine Gnosis da war, die irgendjemand hätte verfolgen können. Der schriftgemäße Islam lag und liegt zwar auf der Lauer, um Verstöße gegen den Tauhid, die Einheit und Einzigkeit Allahs zu ahnden und hat deshalb seine Mystiker stets argwöhnisch beäugt – aber deren Streben ging nur dahin, mit diesem einzigen und einzigartigen Gott eins zu werden… selbst Gott zu werden war niemals ihr Bestreben, lag und liegt außerhalb dessen was sie denken und empfinden konnten und können.

Es bleibt dabei: der Mythos, dass die Gnosis von Anbeginn ihres Auftretens in der griechisch – römischen Welt eine „verbotene Religion“ gewesen wäre, lässt sich nicht aufrecht erhalten. Erstens darum, weil es sich niemals um Religion gehandelt hat, auch nicht um eine an irgendeine Religion angelehnte Mystik und zweitens weil diese Lehre bis zum Verbot aller Lehren außerhalb des Christentums und darüber hinaus niemals genötigt war, und schon gar nicht vor (verbotenen oder allenfalls geduldeten) Christen, Verstecken zu spielen. Im Gegenteil – beinahe von Anfang ihrer Existenz an gehörte diese Lehre zu den im römischen Reich maßgeblichen Konzepten der Gebildeten im griechischen wie im lateinischen Sprachraum. Benennungen als Neuplatonismus und ähnliches sollen diesen Umstand verschleiern oder wurden aus reiner Unkenntnis  der Sachlage geprägt. Denn die platonische Philosophie ist ihrerseits ja von der gleichen ägyptischen Lebenslehre und Weltanschauung geprägt, wie die Gnosis Jesu, so sind Anklänge ganz natürlich. Auch die Etikettierung der Gnosis als Stoizismus gehört in diesen Rahmen, auch die griechischen Stoiker haben ihre Lehrzeit in Ägypten absolviert, desgleichen die Pythagoreer, bei denen ägyptische Gnosis zur obskurantistischen Religionsphilosophie verdunkelt wird – aber auch solche Bestrebungen hat es zumindest in der Spätzeit in Ägypten gegeben[17]. Als nun eine Lehre, die von alledem etwas zu enthalten schien, auftauchte, die sich selbst nur als „die Nützliche, die Brauchbare, die Sanfte“ bezeichnete, glaubte man im Nachhinein, also in unseren Tagen, in dieser nun verständlicherweise auch Bestandteile all der Philosophien zu entdecken, die in Griechenland aus ihr entstanden sind und bezeichnete sie mit den üblichen Etiketten für epigonale Strömungen je nach Fokus des Betrachters  als  – ismen. Diesen  diversen –ismen bescheinigt heute jeder Altertumsforscher ihre große Bedeutung, ohne zu wissen, ja auch nur zu ahnen, dass er damit die Gnosis[18] als beherrschende Philosophie der römischen Kaiserzeit benennt. Wie aber sollte die verfolgt worden sein und von wem? Von Christen, die sich hüten mussten, der Obrigkeit unangenehm aufzufallen? Vielleicht wird sich jemand finden, der mich über die näheren Umstände einer solchen Annahme aufklärt – obgleich ich nicht wüsste wie das geschehen sollte.

 

 

 

 

 

 

 

 


[1] In Suetons Kaiserbiographien zum  Kapitel Claudius.

[2] Wie Marc Aurel, der nachweislich mehr als nur ein Sympathisant der Gnosis gewesen ist. Man erinnere sich zum Erweis gar nicht so sehr seiner philosophischen Selbstzeugnisse, die auch ein engagierter Stoiker hätte hinterlassen können, sondern ich denke hier an das „Wunder der Markomannenschlacht“, das einen eingeweihten Gnostiker in Aktion zeigt.

[3] Sie taten dies aus dem Zwang zur Selbsterhaltung heraus. Nach dem Verlust des Tempels nämlich warb das Christentum mit einigem Erfolg um die entwurzelten Juden, dieweil das Synhedrium von Jamnia damit befasst war, dem Judentum eine neue Mitte zu geben, es um die Synagoge und die Thora neu zu gruppieren. Diese Notwendigkeit bestand außerdem dadurch, dass das frühe Christentum sich über die Tradition seines Gründers eng an die zelotische Partei angeschlossen hatte, die ja dann im Krieg eindeutig unterlegen war, aber für einige unnötige Härten verantwortlich zeichnete, zum Beispiel für die Belagerung Jerusalems und letztlich für den Verlust des Tempels.

[4] Gemeint ist die Periode der Soldatenkaiser, eine Epoche politischer Verkommenheit, die endgültig nach dem Ende der Severer, aber eigentlich bereits mit der Herrschaft des letzten Antoninen  Commodus ausbrach.

[5] Die Aktion des Decius richtete sich keineswegs a priori gegen die Christen. Aber in den letzten Jahrhunderten  waren die Garanten der römischen Macht, die kapitolinischen Götter, aus dem Fokus des römischen Volkes entschwunden, obgleich der Staatskult natürlich noch funktionierte, aber das Interesse der Bürger galt schon seit langem mehr den sogenannten Mysterienreligionen, die mit den römischen Göttern nicht unbedingt zu tun hatten, sondern Gestalten der griechischen, asiatischen und ägyptischen Mythologie verehrten. Sie alle wollte Decius in einer Art Gebetssturm wieder auf die altrömischen Gottheiten fokussieren und so eine erneute magische Stärkung des Reichsgedankens bewirken.

[6] mit dem die Zeit der Soldatenkaiser endete

[7] in der Folge der Reichsreform des Diokletian war die Verwaltung unter zwei Augusti aufgeteilt worden, unter denen vier Caesaren für jeweils vier Provinzen verantwortlich waren. Der Imperator hingegen war nur noch für letztgültige (auch richterliche) Entscheidungen und für das gesamte Reich betreffende Angelegenheiten wie die Außenpolitik und die Repräsentanz, sowie die Festlegung der politischen Generalrichtlinien zuständig. Konstantins Vater war also unter Diokletian Augustus des Westens gewesen, als solcher residierte er in Trier und er wechselte diese Residenz auch nicht, als er,  mitten in einem Feldzug,  per Akklamation Imperator wurde.

[8] In diesem Zusammenhang klärt sich auch das berühmte „in hoc signo vinces“ als eine ganz weltliche Kriegslist – auch in den Reihen des Maxentius nämlich dienten „chrestische“ Offiziere. Die aber kämpften nicht gegen ihresgleichen. So war Maxentius auf die Wenigen angewiesen, die nicht Anhänger der Philosophie waren und unterlag.

[9] Auch indem er vor politischen Morden ebenso wenig zurückschreckte, wie vor politisch motivierten Entscheidungen in Fragen des christlichen Glaubens.

[10] Nämlich die zu Christus Rex = Christus ist König.

[11] Diese zu unterscheiden von den Katakomben. Nekropolen waren oberirdisch angelegte Begräbnisstätten die erst nach und nach und teilweise nie in den Untergrund gerieten, Katakomben aber waren von vornherein unterirdisch angelegte Komplexe, die vor allem von den  Juden, später aber auch, als ihr platzsparender Charakter ihnen den Vorzug vor anderen Bestattungsweisen gab, von Heiden und Christen genutzt wurden. Während Juden und Christen sich meist in einfachen Nischen nach ihrer Sitte zur Erde bestatten ließen, die mit einer Gedächtnistafel verschlossen wurden, legten Heiden sich auch unterirdisch Grabbauten, die Columbarien,  an, in denen sie ihre Urnen aufbewahrten, denn sie pflegten die Feuerbestattung und erst sehr spät die in Sarkophagen.

[12] Die Deutung des großen Fisches als „Christusbekenntnis“ ist dagegen Mumpitz.

[13] Von Verfolgung in der Zeit von Augustus bis zu Theodosius  zu sprechen, kann nur bedeuten, von einer Reihe von Lynchmorden zu sprechen, die dann ihrerseits mit Sicherheit die römische Justiz auf den Plan gerufen haben und möglicherweise für lokale Christenverfolgungen sorgten in deren Verlauf es aus der Optik der Christen wieder ein paar Märtyrer gegeben haben mag. Aus der Optik der römischen Justiz hingegen handelte es sich um verurteilte Mörder.

[14] Augustinus wurde daraufhin zum Erzvater der Inquisition – seine Protokolle über den Prozess, einst in dreiundreißig Büchern penibel angelegt,  sind aber bis auf den heutigen Tag, im Gegensatz zu seinen sonstigen Werken, nicht übersetzt worden. Das hat einen guten Grund, denn würden sie jemals übersetzt werden, so würden die Gebildeten unserer Tage wohl dem Faustus und nicht dem Augustinus beipflichten müssen, der damit als einer der Ahnherren des modernen Christentums entthront wäre.

[15] obgleich sich der Koran an manchen Stellen an das Thomasevangelium anlehnt, mit dem Mohammed wohl durch gnostizistische Christen bekannt gemacht worden war. Das orthodoxe Christentum hingegen entzieht sich völlig seiner Kenntnis, deshalb spricht er auch stets nur von DEM Evangelium. Er kennt nur dieses, aber er kennt es als christliche Schrift, nicht als gnostischer Leitfaden. Insofern ist sein Umgang damit ein interessanter Beleg dafür, dass das Thomasevangelium im Orient bekannt war und wie es dort rezipiert worden ist.

[16] alles andere ist Unfug und Unwissenheit und überdies auch noch bewusster Dummenfang… ebensolcher Dummenfang wie die Beziehung der Bogomilen, der Gottliebenden, auf einen obskuren Priester Bogomil…

 

[17] Es kam immer ganz darauf an, welche Art von „Gewährsmann“ die „wallfahrenden“ Griechen in Ägypten fanden. Pythagoras scheint in dieser Beziehung das größte Pech gehabt zu haben.

[18] wie schon gesagt, wohl zu unterscheiden vom gleichzeitigen gnostizistischen Christentum. Die meisten Dokumente die wir aus dieser Epoche haben, sind gnostizistisch. Auch das Thomasevangelium, also das Basisdokument der Gnosis, blieb nur erhalten, weil es in einer Bibliothek zusammen mit diversen gnostizistischen Texten aufbewahrt worden war.

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