1.08.2012

Gnostiker, Mystiker und Esoteriker

Ein Mystiker ist kein Gnostiker. Es wird auch niemals einer aus ihm werden. Aber ein Gnostiker wird auf seinem Weg zur Gnosis mit Sicherheit Bekanntschaft mit der Welt der Mystik schließen. Es gibt keinen Gnostiker, bis in die Tiefen des Ursprungs derselben hinab, ja bis in die Weisheit des Thomasevangeliums hinein, wo die Gnosis ihre reinste Gestalt entfaltet, der nicht irgendwann in Gefahr kam, der Mystik zu erliegen – weil die Grenze zwischen beidem so schmal und so leicht zu übersehen ist. Aber es gibt keinen einzigen Mystiker, der jemals zur Kühnheit und Freiheit der Gnosis durchgedrungen ist.

Dabei ist die Grenze, wiewohl schmal, doch recht scharf gezogen und wird an den Ergebnissen des Strebens sichtbar. Der Gnostiker vereint Rationalität und Spiritualität, er  sucht sich selbst, er will wissen, warum er konkret (nicht irgendwer und nicht die Menschheit) das ist, was er ist und wie er ist und, davon ausgehend, warum er ausgerechnet in diesen Umständen sich befindet; er hasst das Unwägbare, Unberechenbare und wird so zum Rebellen gegen jedwede Erklärung. Je geschraubter diese sind, umso weniger akzeptiert er sie. Denn er ist bequem. Er will nicht durch die Gegend spekulieren,  er will es mit Händen greifen, mit der Zunge belecken und mit den Füßen betreten können[1]… und so findet er sich selbst und findet zugleich Gott, denn er findet sich selbst als Gott und erhält, wie versprochen, alle Antworten die er sucht und auch solche, von denen er zuvor keine Ahnung hatte, weil er die Fragen danach gar nicht stellen konnte.

Der Mystiker hingegen sucht Gott auf allen Wegen, nur nicht auf denen der Vernunft. Er sucht ihn verzweifelt und wenn nötig auch gegen alle religiösen Empfehlungen, er wird zum Ketzer in der Religion, aus der er erwachsen ist. Dabei gelangt er in geistige Regionen, die anderen Gläubigen durchaus ungewohnt und unheimlich sein mögen, aber er lernt sich darin zurecht zu finden und bis hierher gleichen sich die Wege des Gnostikers und die des Mystikers noch. Aber dann geht er in Gott auf – und dieser Gott ist mitnichten er selbst, vielmehr verliert er sich selbst in einem Gott, der den Vorstellungen der Religion entspricht: gewaltig, allwissend, allgütig, allmächtig und so fort, dem gegenüber sein Selbst zur absoluten Demut der Selbstaufgabe verdammt ist – er existiert als Mensch nicht mehr, nur noch Gott, wie er ihn glaubte, existiert in ihm – meint er und hat sich just in diesem Augenblick selbst verfehlt.

 

Daraus folgt: Mystiker sind interessante Menschen, sie ziehen viele andere an; Gnostiker aber sind langweilig. Und zwar deshalb, weil der Mystiker stets auf einem Schein von Heiligkeit besteht, der Gnostiker sich aber damit begnügt und auch damit begnügen kann, ein Mensch wie alle anderen zu sein. Der Mystiker trägt seine Demut zur Schau, da sie der Spiegel seiner angenommenen Selbstauflösung ist, der Gnostiker hingegen setzt sich selbstsicher in der Welt zurecht und nimmt sie als das was sie ist: vorübergehend. Er kennt sehr viel mehr als diese Welt – aber was geht das diese Welt an, denkt er und kommt zu dem Schluss, dass es sie überhaupt nichts angeht und damit auch sein Menschsein nicht. So bleibt er als das, was er ist, unerkannt und will es auch nicht anders haben, während der Mystiker besonders sein will. Er, der Mystiker,  hat den direkten „Draht“ zu Gott – den er nach wie vor als etwas von ihm Unterschiedenes betrachtet, dem er angehört, der er aber nicht ist, sondern von dem er als von etwas „Höherem“ erleuchtet wurde.

Gnostiker sind langweilig, sagte ich, sie sind wie alle anderen Menschen und legen nicht den geringsten Wert darauf, sich von ihnen  auch nur irgendwie  zu unterscheiden, während der Mystiker, sagte ich, gerade auf diese Unterscheidung den allergrößten Wert legt und sie in allen nur möglichen Formen zu dokumentieren sucht – in Besonderheiten seiner Lebensführung[2], vornehmlich  aber in der Schilderung dessen, was er als „das Göttliche“ erfuhr. So kamen die Werke der Mystiker zustande, während die „Werke“ der Gnostiker sich nicht an ein breites Publikum, sondern an ihresgleichen wandten, denn nur ihresgleichen konnte und kann sie verstehen. Weil sich aber beide auf weite Strecken als einander verwandt erweisen – auch der Gnostiker hat es mit geistigen Phänomenen zu tun – ist die Hinterlassenschaft von Mystikern und Gnostikern für den Laien, und das dürften vor allem die Theologen sein, zuweilen nicht voneinander zu unterscheiden. Die Systematiken eines Valentinus und die Visionen einer Hildegard von Bingen scheinen aus der gleichen  Quelle zu stammen – und sie tun es doch nicht, denn während Valentinus selbst seinen Fähigkeiten und Reichweiten entsprechend auf Erkundungsreise geht, empfängt Hildegard ihre Bilder  als Offenbarungen von einer höheren Macht, der sie sich im Grund ihres Herzens als nicht ebenbürtig fühlt. Während Valentinus zu seinesgleichen spricht, spricht Hildegard zu einer unwissenden Menschheit, der sie sonst Unzugängliches zugänglich machen will.

Nun sind Systematiken aber nicht das Lieblingskind der Gnosis, so wie der Baedeker nicht das Lieblingkind des Reisenden ist, sondern sie dienen, wie der Baedeker nur einem einzigen Zweck: sich in einem fremden Terrain, in einer fremden Kultur einigermaßen zurecht zu finden; Offenbarungscharakter tragen diese Systematiken nicht, das wird oft verkannt. Es sind wenn man so will nur Landkarten, Handskizzen über das, was es in der geistigen Welt alles zu sehen und zu erleben gibt und diese Handskizzen sind mit Vorschlägen versehen, wie man sich und wie man sich besser nicht verhält, wo man sich aufhalten kann und wo man besser Fersengeld geben sollte und das immer aus dem konkreten Blickwinkel eines Valentinus gesehen – ein Anderer hat jede Freiheit zu anderen Schlüssen zu kommen und so ist jede solche Systematik von Grund auf relativ. Daher gibt es deren auch so viele[3] – man tauschte sich wechselseitig aus.

Anders bei den Mystikern. Bei ihnen ist die „Weltenschau“ als Offenbarung unumstößlich und steht selbst im Ruf der Heiligkeit und Unantastbarkeit und der Einzigkeit sowieso. Daher ist ihr System denn auch ein echtes System und hat dogmatischen Charakter, selbst wenn es allen anderen völlig unvertraut und gerade wenn es allen anderen unvertraut und unzugänglich ist – sie haben es so zu übernehmen und anzunehmen, wie der Mystiker es ihnen verkündet. Was bei den Gnostikern innerhalb ihrer Schulen oft auch nur unter der Rubrik „Klatsch und Tratsch“ gehandelt wurde, hat hier den Charakter einer besonderen Werthaltigkeit, welche von den Grundlagen der jeweiligen Religion ausgehend, dieselbe erweitern und bestätigen will, auch dann, wenn sie darin nicht vorgeformt und daher häretisch ist. Man kann es auf diese Faustformel bringen: der Mystiker ist im höchsten Grade fromm, der Gnostiker ist es in keiner Weise. Für ihn ist alles, was er zu berichten hat, profan, etwas Heiliges existiert nicht für ihn. Für den Mystiker aber ist alles heilig, und diese Heiligkeit zieht sich bis in seinen Alltag hinein, den er ja auch als Teil des Göttlichen betrachtet, das er selbst niemals sein kann, das ihn, den Wurm, aber „in Gnaden“ angenommen hat.

Mystiker gibt es in allen Religionen dieser Welt. Es besteht substanziell kein Unterschied zwischen dem indianischen oder afrikanischen Medizinmann und dem katholischen Ordensmitglied oder dem Sufi im Islam und dem indischen Yogi oder Sadhu. Gnostiker zu sein aber bedeutet, aus der Welt der Religionen ausgeschieden zu sein und zwar auf immer, denn was den Religionen das Heilige ist, das sie demütig verehren, ist ihm das Alltägliche, mit diesem allen lebt er und anders  kann er nicht mehr leben. Er ist kein Philosoph, denn ein Philosoph kann seine Gedankengebäude ändern – er aber, da er nicht mit Gedankengebäuden, sondern mit Wirklichkeit als solcher umgeht, kann das nicht. Klarer Fall, dass die Gnostiker nicht in der Lage waren, wieder Christen zu werden, selbst dann nicht, wenn das ihr ehrlicher Vorsatz gewesen sein sollte. Ein Sehender kann nun einmal nicht mehr erblinden, er wird sich mit einer Binde vor den Augen in der Welt nicht mehr zurecht finden und daher wird er sich die Binde bald wieder von den Augen reißen um endlich wieder sicheren Tritt zu finden. Wer die Geheimnisse des eigenen Gottseins und dessen Implikationen kennt, der kann nicht zu Füßen eines törichten Priesters sitzen, von ihm zu hören, was er selbst viel besser weiß. Denn es geht ja nicht um Überzeugungen dieses oder jenes Charakters – es geht, was kein Frommer je begreifen wird, um etwas, das anders als es ist, nie wieder sein kann. Nur das, was er ist, kann sich aufbauend und erweiternd verändern – nicht aber kann es sich zurücknehmen. Dem entgegen kann sich der Mystiker durchaus wieder der Orthodoxie seiner Religion zuwenden, aus deren Bezügen er ja niemals wirklich ausgebrochen ist und so sind Mystiker, wie Hildegard und Theresa, Spee und Silesius oder, protestantisch, Jakob Böhme,  dem Verdacht der Häresie auch entgangen und sind mit vielen anderen, Bekannten und Unbekannten, von ihren Religionen akzeptiert worden, desgleichen die Mystiker des Islam, von denen keiner jemals aus dem Islam ausgegliedert worden ist[4]. Selbst Grenzfälle der Mystik wie Rumi und mehr noch Chajjam gelten bis heute unangefochten als Muslime. Indessen wird niemand einen Basileides oder einen Markos[5], auch wenn sie den Erlöser Christus noch so sehr in sein System einbeziehen,  Christen nennen und sie wollten es wohl auch selbst nicht.

Es gibt aber einen Fall, bei dem nicht klar ist und auch nie klar werden wird, ob wir ihn nun zu den Mystikern oder zu den Gnostikern rechnen sollen; seine Bedeutung ist indessen unbestritten in christlichen wie auch in darüber hinaus greifenden Kreisen er ist eine im besten Sinne interreligiöse Gestalt und man kann darüber diskutieren, ob er überhaupt noch der Religion zugerechnet werden kann, auch wenn er Termini derselben wie das Aufgehen in Gott benutzt. Er kann wie es ausschaut, wenn man seine Werke studiert, durchaus auch etwas Anderes damit meinen; mit christlicher Demut und Unterwürfigkeit hatte er jedenfalls sein Leben lang nicht viel am Hut: ich meine den Meister Eckart von Hochheim (1260 – 1328). Religiöse und sicher auch profane Wissbegierde trieben ihn bereits in seiner Jugend in den damals äußerst modernen Orden des heiligen Dominikus, der die Welt nicht floh, sondern in Predigt und Seelsorge im Gegenteil suchte und der sein Ideal nicht in klösterlicher Beschaulichkeit, sondern darin sah „zu betrachten und das Betrachtete anderen weiter (zu) geben. In diesem Orden stieg er, der Intellektuelle, rasch auf, wurde Prior des Erfurter Dominikanerklosters in das er einst eingetreten war und Vikar der Ordensprovinz Thüringen – da war er, der 1260 geboren wurde, und der wohl erst als junger Erwachsener ins Kloster ging, man gerade an die Dreißig. Im Ganzen kann man sagen, dass er seinem Orden lebenslang keine Schande machte, obwohl – ein typischer Dominikaner, also ein Ketzerjäger, war er nicht. Nun war zu seiner Zeit die heiße Periode der Ketzerjagden zwar auch schon ziemlich abgeklungen und der Orden konzentrierte sich mehr und mehr auf die städtische Seelsorge und die Sorge um die akademische Jugend sowie auf die Ausarbeitung theologischer Probleme, letzteres in der Nachfolge des Aquinaten, der bis heute der prominenteste Dominikaner geblieben ist, aber die Werke Eckharts atmen doch bei aller akademischen Strenge eine ganz ungewöhnliche Freizügigkeit und Eigenständigkeit, so als begegne man hier jemandem, der, wiewohl in seinem Fache hoch gebildet, es nicht nötig hat, bei Kollegen abzuschreiben. Obgleich die Dominikaner bis heute nicht darüber erfreut sein dürften, verraten einige Formulierungen in seinem Werk doch Horizonte, die sich weder aus der mystischen Tradition, noch aus der theologischen Praxis und auch nicht aus philosophischer Bildung ableiten lassen, sondern aus denen kaum verhüllt die Souveränität dessen spricht, der sich selbst erkannt hat und weiß, wovon er spricht, wenn er zum Beispiel sagt, man müsse die Leiter abwerfen, so man an ihr aufgestiegen (sei), das heißt, man müsse sich, nachdem man die Überlieferung benutzt habe, unbedingt von derselben befreien. Interessant ist auch, dass er, des  Lateinischen wohl mächtig und beredt, Schriften im Deutsch seiner Zeit verfasste, also offenbar nicht nur die akademische Welt mit dem erreichen wollte, was er zu sagen hatte. Auch die Katharer haben zu ihrer Zeit ihre Bücher in den Landessprachen verfasst obgleich viele unter ihnen als ehemalige Kleriker des Lateinischen mächtig gewesen sein mögen, wenn dies auch damals noch nicht so allgemein verbreitet gewesen ist, wie schon ein Jahrhundert später  zu Meister Eckharts Zeit. Direkte Berührungen mit (versprengten) Katharern hat Eckhart aber wohl nicht gehabt. Er ist, sollten meine Vermutungen zutreffen, auf dem Wege eigenen Nachforschens zu jenen Einsichten gelangt, die er dann, mehr oder weniger verblümt, propagierte und mit denen er sich zuletzt doch den Zorn einiger Kirchenmänner  zuzog – allerdings starb er über dem laufenden Prozess, sodass es zu keinem Urteil über ihn gekommen ist und es bleibt auch durchaus in der Schwebe, wie dieses Urteil gelautet  hätte, denn Eckhart hat es seinen Richtern sehr schwer gemacht, weil er eben intelligenter war. Dazu kam, dass sein Orden, dem er mit seinem scharfen Verstand sehr viel Nutzen brachte, sich vor ihn stellte, die Dominikaner aber waren per se Hüter des Glaubens und Träger der Inquisition. Man kann sich denken, dass sie, wie sie in der Lage waren, die Dinge zu beschleunigen, auch in der Lage waren, sie hinzuziehen. Gefänglich festgesetzt wurde Eckhart übrigens nie.

Eckhart beschreibt keine Visionen, er entwirft auch keine Weltsysteme, was ihn interessiert ist die „Pädagogik“, was auch wieder für einen Gnostiker spricht, der lieber als über das, was sowieso niemand verstehen kann, darüber spricht, wie man dahin gelangen könnte es zu verstehen. Eckhart spricht viel über den Weg, wenig über das Ziel, das beschreibt er nur ungefähr in den üblichen Formulierungen, die auch ein Mystiker benutzen könnte. Wenn er war, was ich vermute, war das auch unbedingt notwendig, denn diese Formulierungen, mittlerweile von der Kirche anerkannt,  waren ein gutes verbales Versteck. Dass Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis am Ende in eins zusammen laufen, brauchte Eckhart seinen Hörern nicht extra zu erläutern – das würden sie, so sie seiner Methodik folgten, schon selber herausfinden. Da eine direkte katharische Vorbildung aber wohl ausfällt, es sei denn, Eckhart habe die diversen Inquisitionsakten zur Kenntnis genommen in denen genug davon stand, kann man davon ausgehen, dass er den Weg, den er lehrte, auch selbst gegangen ist. Dafür spricht die Eindringlichkeit seiner Predigten, die schriftgemäß waren wie die Predigten der alten Katharer und doch auch kühn und selbständig genug, um seine Hörer zu fesseln und die allesamt ihren Sitz im Leben des Menschen niemals zugunsten von Spekulationen aufgaben, auch wenn sie einen hohen Anspruch setzten und durchhielten.

Ein Grenzfall also – wohingegen andere, die sich (zeitweise oder dauerhaft) Gnostiker nannten, wohl keine Grenzfälle, sondern Mystiker waren und sind, denn wer immer Mensch und Gott zu trennen unternimmt, indem er Unterordnungsverhältnisse aufstellt, ist ein Mystiker. Er ist es umso mehr als er ein traditionelles Gottesbild übernimmt und er ist es gar auf völlig verquere Weise, wenn er annimmt, dass der Mensch diesem traditionellen Gottesbild jemals entsprechen könnte. Über dem Tor der Selbsterkenntnis steht angeschrieben „es ist alles ganz anders“ nämlich anders als alles, was in Bibel und Koran und sonst wo davon geschrieben steht. Solcher Vorsatz muss in der Katastrophe enden, weshalb ein C.G. Jung dann auch aufhörte, Gnosis, wie er meinte, zu treiben[6] und sich lieber auf die Psychologie warf und den Gottesbegriff, der ihm nicht passte, zum Archetypus machte und munter mit ihm durch die Epochen jonglierte. Wenn Gnosis und Mystik gleichermaßen versagen, soll das heißen, bleibt die bloße Psychologie übrig und es bewahrheitet sich der Satz: seid ihr in Armseligkeit und ihr seid (selbst die personalisierte) Armseligkeit. Sie versagen aber beide, wenn der Mensch nicht bereit ist, dem Unerwarteten zu begegnen. Ihm bleibt dann nur noch die mehr oder weniger originelle Interpretation des Altbekannten. Andere meinen, dass ihnen allein schon die Literatur die Gnosis erschließt und sind enttäuscht, wenn ihnen aus den Buchstaben kein Geist entgegen schwebt, aber die Buchstaben, auch die der gnostischen Dokumente, sind tot, wenn ihnen nicht der Geist aus den Augen des Lesers entgegen flutet und ihnen den Zusammenhang verleiht, den sie aus sich selbst nicht haben können. Man kann noch so viel Rumi lesen, man wird nicht erleben, was er erlebte und man kann noch so oft das Thomasevangelium durchlesen, man wird nicht begreifen, was dort entwickelt wird, allenfalls wird man einige griffige Formulierungen verstehen, aber auch diese ohne ihren Hintersinn, der das eigentlich Wichtige an ihnen ist. Man kann Eckarts Satz von der Leiter zehnmal zur Kenntnis nehmen, wenn man nicht auf derselben steht, gibt es auch nichts, was man umwerfen und hinter sich fallen lassen könnte und der Satz besitzt so viel Existenzialität wie der des Pythagoras über das rechtwinklige Dreieck.

Wir haben die Mystiker, wir haben die Gnostiker und wir haben das, was keines von beiden ist und auch keines von beiden jemals werden kann, die Psychologen. Was fehlt uns noch? Die Okkultisten können wir getrost beiseitelassen, es sei denn, wir wollten die Märchen der Gebrüder Grimm unter die Offenbarungsschriften aufnehmen. Die Esoteriker, natürlich, die fehlen uns noch, denn unter ihnen befinden sich viele Mystiker einer neuen Generation. Viele wollen zwar noch zum alten Lieben Gott und in ihm aufgehen, aber mehr noch haben sich unter dem Einfluss von Theologen, die ihnen weismachten, es gäbe einen unpersönlichen Gott, aufgemacht, das Universum zu „vergotten“ – ach du meine Güte, sicher doch, sie bevölkern nun die Planeten mit phantastischen Wesen, die ihnen als Engel vorgestellt wurden und behaupten mehrheitlich, jene hätten auf fernen Sternen ihre Lehrstühle aufgestellt und würden von dorther die Menschheit unterweisen – ja du Liebster, aber das glauben sie fest und mit Begeisterung. Sie sind keine Religiösen alter Schule mehr, denn die gaben sich mit dem Universum klugerweise nicht zufrieden, sie sind viel bescheidener geworden, ihre Paradiese heißen Alpha Centauri und Pegasus und Andromedagalaxie oder irgendwo dort herum. Wieder andere setzen das Universum mit dem Lieben Gott gleich und faseln, da derselbe ja persönlich sein soll, nun von einem universalen Bewusstsein. Und göttlich sind sie ja sowieso alle – als Kinder dieses Universums, damit wir uns gleich verstehen. Da braucht niemand mehr zur eigenen Göttlichkeit durchzudringen, das Universum macht das schon für alle und man muss nur seinem Guru folgen, dann klappt das schon. Himmel –  der nächste Karneval, scheint es, ist eröffnet, hier für‘n Fünfer, wer bietet mehr und der teuerste Guru ist natürlich auch der beste.

Es lohnte nicht, darüber zu reden, wenn nicht diese billigste Variante des billigsten Kitsches eben weil sie so schön bunt ist, so viele ehrliche Herzen von ihrer eigentlichen Mission ablenken würde indem sie ihnen weismacht, dass alles Nötige schon geschehen wäre und auf sie gar nichts mehr entfiele, als abzuwarten. Zwischendurch könnten sie sich ja die Zeit vertreiben, indem sie die Erde heilten… als hätte die anderes nötig, als handfeste Aktionen, wie Wiederaufforstung, Renaturierung der durch Menschen entstandenen Wüsten, Renaturierung der Ströme, Säuberung der Meere und was da an arbeitsintensiven Handlungen mehr ist. Mit Streicheln und Singen wird man da wenig bewirken, fürchte ich…. und mit Mystik auch nicht, schon gar nicht mit solcher von der billigsten, sentimentalen Sorte. Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass solch diffuse „mystische“ Religiosität in einer Gesellschaft der Konsumenten gut ankommt und vor allem bequem ist, denn in allererster Linie predigt diese Spiritualität nicht Mühe und Fleiß wie die Gnosis, auch nicht Askese und Ekstase wie die Mystik, sondern Wohlgefühl und – natürlich – Selbstliebe[7] bis zum Abwinken. Nicht „erkenne dich selbst“ ist ihr Wahlspruch, sondern „liebe dich selbst“ und das ist gemeint als „verhätschele dich wo und womit immer du kannst“. Unbequeme innere wie äußere Exerzitien sind im esoterischen  Mystizismus verpönt, das lauwarme, essenzengetränkte Bad ist wohl das treffende Bild für das, was er will. Ob nun jemand mehr das Zeug zur Mystik oder zur Gnosis hat, gleichviel – vor diesem zuckerwattigen Eiapopeia kann man nur warnen. Obwohl – eigentlich sollte ja schon der Umstand stutzig machen, dass die großen und unaussprechlichen Geheimnisse dieses Mystizismus an jeder Straßenecke in Großauflage feilgeboten werden. Was sagte ich: Mystik will sich selbst mitteilen – ja, die Esoterik kommt von der Mystik her, daher auch ihr Mitteilungsbedürfnis, aber das ist keine Mystik, sondern ein – ismus unter vielen anderen, das ist Massenware wie der gesamte Konsumbetrieb – Massenware mit voraus geplantem Verfallsdatum. Das will keine endgültigen Ergebnisse, sondern nur vorbereiten auf das nächste Produkt. Alle Hinweise auf eine angebliche „Innenseite“ der Religionen sind Humbug und Werbestrategie, denn solche Innenseiten der Religionen gibt es gar nicht. Gemeint ist damit stets nur das Echo, das eine bestimmte Religion im Gefühlsleben eines konkreten Menschen erzeugt und anrichtet. Es gibt also gar keine „echte“ und „unechte“ Esoterik, sondern die einzig „echte“ Esoterik ist jenes Masseprodukt als das sich „moderne Spiritualität“ hier und jetzt  verkauft.

Und Gnosis – Gnosis ist viel zu real als dass sie jemals esoterisch sein könnte. Dem, der sie treibt, fehlt jede Sehnsucht nach Verklärung und Überhöhung, fehlt jeder Ehrgeiz in Bezug auf „Wunder“ die man tun oder erleben könnte, Gnosis ist die blanke Frage: warum bin ich was ich bin und wie steht das was ich bin in Beziehung zu allem anderen das ich wahrzunehmen in der Lage bin? Was kann, was sollte ich darin tun oder lassen, was weitersagen und wovon besser schweigen? Gnosis kennt keine Rituale und keine Sentimentalitäten, allenfalls Techniken um mit dem oder jenem Phänomen zurande zu kommen. Der Unterschied zwischen einem Gnostiker und einem Esoteriker ist der eines Arztes zu einem Kurpfuscher. Der Arzt weiß, was er weiß und er handelt danach; der Kurpfuscher glaubt, dass er etwas weiß und dann handelt er danach. Der Arzt kann sich irren – der Kurpfuscher irrt sich sowieso. Beim Arzt ist der Erfolg die Regel, das Versagen die Ausnahme – beim Kurpfuscher verhält es sich genau umgekehrt. Deshalb wird auch sein Erfolg umso mehr in alle Welt hinausposaunt. Gnostiker sind normalerweise[8] schweigsame Leute, die mit ihrem Wissen nicht hausieren gehen, während der Esoteriker sich am liebsten ein Werbeplakat an den Allerwertesten tackern würde: schaut her, die ihr achtlos an mir vorüber geschritten seid, ich bin göttlich und ich bin Esoteriker, also kehrt um und verwickelt mich in ein Gespräch, damit ich euch die Welt erkläre.

Aber der Gnostiker mag auf den Mystiker gütig lächelnd herabschauen, der Mystiker mag deswegen auf den Gnostiker wütend sein – beide jedoch werden für Esoterik aber auch gar nichts übrig haben. Und die armen Esoteriker werden ihrerseits weder den Mystiker, noch gar den Gnostiker auch nur im Ansatz verstehen können. Die Tragik ist nur die, dass sie das selbst nicht wissen und meinen, von beidem etwas zu sein. Nun, ich sagte, Mystiker und Gnostiker könnten nicht zueinander kommen – wie sollen angesichts dessen jemand „etwas von beidem“ sein können? Wenn das so ist, kann er nur gar nichts sein, denn gar nichts formt sich allerdings allem an…

 

 

 


[1] Die fünf Bäume im Paradies sind wohl das beste Bild für die Art und Weise, wie Gnosis zu ihren Ergebnissen kommt.

[2] Eremiten, Sadhus, Wanderprediger, Wundertäter etc. pp.

[3] der größte Teil dieser dokumentarischen Korrespondenzen ist in den Jahrtausenden seither verloren gegangen, aber allesamt sind sie Erben des alten Jenseitsführers der Ägypter und seiner Modifikationen.

[4] Man wird mir, ich sehe es, nun die Bahai entgegen halten und auch die Ahmadiya. Aber diese Bewegungen distanzierten sich selbst ausdrücklich vom Islam indem sie „schirk“ begingen, die Sünde der Beistellung und indem sie das Dogma von Mohammed als dem Siegel der Propheten nicht anerkennen wollten, ihren Gründern vielmehr Mohammed überbietende Autorität zuerkannten.

[5] das ist der mit den Zahlenspielereien…

[6] gemeint ist das „rote Buch“ in dem der junge C.G. Jung seine Erlebnisse festhielt und von dem er sich später vehement distanzierte.

[7] Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass das insbesondere katholische aber auch und sogar mehr noch das kalvinistische Christentum mit seiner Leibfeindlichkeit und seiner Forderung nach steter Selbstverleugnung diese Haltung geradezu herausgefordert hat.

[8] Es scheint, als würde ich das Schweigen brechen – das tue ich keineswegs, denn über das Eigentliche der Gnosis kann niemand reden, sondern ich befasse mich nur mit den und jenen notwendigen Abgrenzungen. Denn wir leben in einer Welt, in der Religionen und Spiritualismen zuhauf existieren, viele  haben irgendetwas von der Gnosis geraubt und so ist es nötig, das Geraubte wo immer möglich zurück zu holen oder, geht das nicht mehr, es wenigstens als Diebesgut zu kennzeichnen.

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