18.12.2011

Das nationalsozialistische Deutschland – 1. Einleitung

Gestattet mir im Zuge meiner Auseinandersetzung mit dem im Titel aufgeführten Thema eine fortschreitende Veröffentlichung persönlicher Erkenntnisse und natürlich eine grobe Darstellung der Hintergründe, die für das „wie?“ und das „warum?“ zuständig sind, aufzuführen.

Gerade das Phänomen des nationalsozialistischen Deutschlands ist wie kaum ein anderes Thema so umfangreich und vielschichtig rezipiert worden und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht.

Ich werde meine Ausführungen in verschiedene Schwerpunkte aufteilen, um eine gewisse Überschaubarkeit zu gewährleisten. Eine Beteiligung ist immer erwünscht und natürlich freue ich mich auf Diskussionen!

Für meine Betrachtungen halte ich mich an einschlägige wissenschaftliche Auseinandersetzungen und seriöse Quellen. Wem irgendwas übel aufstößt, soll es mir mitteilen, denn Fehlinterpretationen oder Missverstehen bleiben trotzt strenger wissenschaftlicher Vorgehensweise selten aus.

Also, viel Spaß und vor allem: geistige Befruchtung!

1. Einleitung

Im Jahr 2000 wurden 40.000 literarische Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus dokumentiert. Man schätzt, dass in den kommenden zehn Jahren etwa weitere 10.000 Publikationen erschienen sind.

Die Brisanz dieser historischen Phase ist zweifellos monströs. Für den Historiker stellt sich im Zuge dieser akribischen Betrachtung vor allem die Frage, wie es zu dem Aufstieg und zur stattgefundenen Entwicklung kommen konnte.

Eine moralische Be- und Verurteilung reichen dabei nicht aus. Es ist die strenge Aufgabe des Historikers, Erklärungsfindungen herauszuarbeiten.

Und was wir uns alle – immer wieder – in das Bewusstsein rufen sollten: Die Geschichte des Nationalsozialismus ist keine Geschichte der NSDAP oder die Hitlers und seiner Schergen, sondern deutsche Geschichte! Man sollte sich keinen Konstruktionen bedienen, qua „da war das gute und dort das schlechte Deutschland“, sondern sich vor Augen halten, dass jenes Deutschland, mit dem wir uns zu identifizieren pflegen, eine nationalsozialistische Geschichte inhärent aufweist, die natürlich ganzheitlich und nicht partiell auftrat.

Neben der Perspektive des Nationalsozialismus als nationale Geschichte, gilt es denselben auch im internationalen Kontext zu betrachten. Darauf werde ich aber im weiteren Verlauf meiner Darstellungen kommen.

„Geschichte ist immer Gegenwart“ – und das gilt vor allem für den Nationalsozialismus. Und nicht aufgrund eines Sensationalismus, sondern da die NS-Auseinandersetzung ein zentrales Element für die politische Kultur Deutschlands ist. Der Nationalsozialismus ist (immer noch) omnipräsent. Ob in Büchern, Sendungen, Filmen, Schulen (man denke nur an den Stauffenbergfilm mit Tom Cruise) oder gar in rechtsradikalen Ausuferungen auf der Internetbühne – medial ist er überall auffindbar. Und auch in der Politik oder in der Kultur findet man ihn wieder.

Erkennbar wird das auch an Debatten, die in der Neuzeit geführt wurden. Der Historikerstreit in den 80ern oder die Debatte über eine Wehrmachtsausstellung in den 90er wurden in ihrer Heftigkeit zu einem Phänomen der zentralen Selbstverständigung.

Was wir uns vor Augen zu führen haben: Es existiert wieder ein deutscher Nationalstaat. Und dieser ist kein postnationales Gebilde, sondern ein Konstrukt, das Kontinuität repräsentiert!
Hinzu kommt, dass wir uns in einer Phase des Generationenwechsels befinden. Und ebendieser hat eine ganz besondere Qualität, da die Erlebnisgeneration aus Tätern, Mitläufern, bystander, Hasardeuren, Opfern sowie auch neutrale(re)n Zeitzeugen vergeht, aus biologischen Gründen. Das führt zu der Transformation eines kommunikativen Gedächtnis in ein langwieriges kulturelles Gedächtnis. Nur: Welches Bild gilt? Welches bleibt? Welches setzt sich durch?

Um die aktuelle Forschung anzureißen, hier mal ein paar Literaturtipps, die sich den neusten Thesen, Bildern, Meinungen und Erkenntnissen bedienen:

Michael Wild: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, Dietmar Süß, Winfried Süß: Das dritte Reich, München 2008 und Klaus Hildebrand: Das dritte Reich, Oldenburg 2009.

Die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Nationalsozialismus fanden bereits unmittelbar nach 1933 statt. So haben sich die in die USA immigrierten Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel („the dual state“) und Franz Neumann („Behemoth*. The structure and praxis of national socialism“) als erste mit einer wissenschaftlichen Betrachtung des Nationalsozialismus herausgestellt. Sie waren als Personen, die direkt in den Kontakt mit dem NS-Aufstieg kamen, wichtige Zeugen und demnach sind ihre Werke bis heute von hochgradiger Bedeutung.

Weiterhin sei Friedrich Meinecke mit seinem Buch „Die deutsche Katastrophe“ von 1946 zu erwähnen. Meinecke stellt die „Katastrophe“ jedoch nicht als Ausartung menschlicher Barbarei im Zuge der Judenvernichtung, der Angriffskriege und Völkermorde dar, sondern vielmehr als Kriegsniederlage 1945, respektive des Unterganges eines deutschen Nationalstaat, der „so glorreich 1871 entstanden war“. Dennoch kommt er über die Betrachtung der Hintergründe, die zum Zusammenbruch führten, zur Problematik der Nationalsozialistischen Politik und weist dieselbe im weiteren Verlauf als Ursache aus.

Es folgt Gerhard Ritter: „die Dämonie der Macht“. Er brachte das Buch 1947 heraus und beschreibt in seiner Abhandlung Hitler als „einen aus der Tiefe hervor gegurgelten Dämon“. Dabei kristallisiert sich die deutliche Hiterisierung, im Sinne von „es war Hitler“, heraus.

Diese Hitlerzentrierung war auch in folgenden Erscheinungen der frühen Historiographie eine weitverbreitete Herangehensweise und es herrschte eine allgemeine Ratlosigkeit, die sich in monokausalen Betrachtungen und irrationalen Argumentationen ausdrückte. So wurde unter anderem der NS als „Betriebsunfall“ in der deutschen Geschichte gewertet.

In den 50er Jahren beschäftigten sich deutsche Historiker gar nicht mit dem Nationalsozialismus und die wichtigsten Werke stammten aus der Feder diverser Politikwissenschaftler.
Karl Dietrich Bracher: „Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie.“, als ein Meisterwerk der deutschen Zeitgeschichtsschreibung erschien 1955. In diesem lag die Zäsur und das politische Interesse im Aufstieg des Nationalsozialismus mit dem Fluchtpunkt: 30.1. 1933. „Bonn ist nicht Weimar“.

Die entstehende Deutsche Zeitgeschichte war jedoch nicht eine Geschichte des Nationalsozialismus, sondern allenfalls eine Beleuchtung des Aufstiegs desselben.

In den 60er Jahren fanden viele NS-Prozesse statt, mit dem Höhepunkt 1964, dem Auschwitzprozess. Vor diesem Hintergrund wurde nach historischen Gutachten gefragt und es kam via juristischer Auseinandersetzung zu ersten geschichtswissenschaftlichen Publikationen wie der „Anatomie des NS-Staates“ von Martin Broszat.

Zusätzlich erfuhren marxistische Argumentationen im Bezug auf den Nationalsozialismus einen starken Bedeutungsgewinn. Als Gründe dafür kann man den Aufstieg der neuen Linken Partei und dem Aufkommen studentischer Bewegungen in Erwägung ziehen.
Eine damals elementare marxistische Erklärung für den Aufstieg des NS war, dass der (deutsche) Faschismus eine logische Konsequenz des Kapitalismus (in der Krise) gewesen sei. Der NS gleiche einer „progressiven Ausbeutung des Volkes“. Darüber wurde der Blick zunehmend auf sozialökonomische Entwicklungen gerichtet, was eine interdisziplinäre und befruchtende Wirkung hatte. Jedoch wurden Problematiken wie Antisemitismus, Holocaust und Völkermord lediglich am Rande erwähnt und Auschwitz war sozusagen nur eine Fußnote.

Derweil entwickelte sich ein immer stärkeres Bewusstsein, dass der Nationalsozialismus im Kontext längerer Kontinuität deutscher Geschichte stünde.
Dazu sei die „Fischerkontroverse“, in der es um die Klärung der Schuldfrage ging, genannt und natürlich Fritz Fischers Werk: Griff nach der Weltmacht. Kiregszielpolitik des kaiserlichen Deutschland“ von 1961.

In der „Kontinuitätsfrage“ geht es u.a. um die Entwicklung einer deutschen Gesellschaft unter dem Einfluss traditioneller Machteliten und dem Zustand einer „Obrigkeitsgesellschaft“ zu Zeiten Wilhelm II.

In diesem Zusammenhang publizierte Hans Ulrich Wehler sein Werk „Das deutsche Kaiserreich“, das zu einem Meilenstein deutscher Geschichtsbetrachtung wurde und bis heute als Basis kausaler Rückschlüsse genutzt wird. Aus diesem Buch wird ersichtlich: Prädispositionen entwickelten sich weiter und führten letztlich zum Nationalsozialismus.

Darüber hinaus existierte die These vom „deutschen Sonderweg“, in dem sich Modernisierungsprozesse nicht mit Demokratisierung oder Liberalisierung wie in England (wo es zumindest so behauptet wird) verbinden ließen, was den Nationalsozialismus begünstigt hätte. Jürgen Conrad von der Bielefelder Schule war ein Vertreter dieser These.

Die Sozialhistorische Analyse erreichte erst spät die Überwindung des Fluchtpunktes „31.1.1933“. Es zählte weniger die Frage nach Gesellschaft und Kultur, sondern vielmehr jene nach politischen Strukturen, wie die Polykratie als Herrschaftssystem.

Völlig marginalisiert wurde dabei stets die Geschichte der Opfer. Das hielt sich bis in die späten 70er Jahren so. Einzig mit dem Werk „The destruction of the European Jews.“, welches der Amerikaner Paul Hillberg schon 1961 veröffentlichte, aber erst 1981 ins Deutsche übersetzt wurde, konnte die Opfergeschichte ihr Debüt verzeichnen.

1979 erschien zusätzlich der 4-teilige Fernsehfilm „Holocaust“ und erzielte eine enorme Einschaltquote. Dadurch wuchs das Interesse an Opfergeschichte und es entstanden Geschichtswerkstätten in diversen Gemeinden, woraufhin die Opfergeschichte fortan wesentlich stärker betont wurde.

Werke hierzu: Martin Broszat u. Elke Fröhlich: Bayern in der NS-Zeit. In diesem 1983 erschienenen Buch mit regionalem Kontext wird die vorher so akribisch zelebrierte Strukturanalyse – „ohne Menschen“ – stark relativiert.
Lutz Niethammer: Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet von 1983 sei als weitere Lektüre dazu empfohlen.

Mit dem Aufkommen der Opfergeschichte begann auch eine neue Dimension der Täteruntersuchung: Die Schuldzuweisung wurde anhand von mehrdimensionalen Betrachtung mehr und mehr aufs Volk übertragen.
Wie auch sonst konnte ein solch großflächiges und komplexes System funktionieren? „Deutsche als Täter!“. Die Perspektive der Makro-Täterschaft, über die Täter zuvor pauschal in die Schublade der NS-Brigade gesteckt wurden, änderte sich zu der Sichtweise einer individuellen Täterschaft, aus Mitmachern, Mitläufern und Wegguckern.

Der Angestellte im Finanzamt ist mit der „Arianisierung“ beschäftigt gewesen, Polizeibehörden und etliche andere Berufszellen waren ein entscheidendes Rädchen des NS-Regimes. So wurde der Polizist als Reservist eingesetzt und wirkte wenig später an Massenerschießungen in Polen mit.

Das Hauptwerk zu dieser Thematik wurde von Christoper Browning verfasst und trägt den bezeichnenden Namen „Ganz normale Deutsche“.
Hierauf entstand die „neue Täterforschung“. Während die alte nur die Spitzen und Eliten als Täter identifizierte, konzentrierte sich die neue auf alle Deutschen.

Es ist eine schwierige und herausfordernde Aufgabe für Historiker und andere Wissenschaftler die Gründe für das Mitmachen so vieler Deutscher zu ermitteln. Wie konnte solch eine Loyalität entfacht werden, auf die sich das System entwickelt hat?

Welche, die´s versucht haben: Norbert Frei mit „Volksgemeinschaft. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirklichkeit der Hitler-Zeit“ von 2005 sowie Frank Bajohr / Michael Wildt: Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, 2004.

In diesen Werken wird das „Warum“ auf verschiedenen Ebenen diskutiert und beleuchtet.

Bis hierhin eine grobe historiographische Verortung dieses Themas. Es dient für Interessierte vor allem als Einstiegsangebot in die wissenschaftliche Welt der NS-Lektüren, über die das völlig überholte Schulverständnis durch ein adäquateres ersetzt werden kann. Es ist harter Tobak, das gebe ich zu, aber es lohnt sich ihn zu durchforsten. Ich will wissen, wo meine Wurzeln sind, will wissen, was mir im System sitzt, wer meine Großeltern wirklich waren. Und dabei versuche ich rational zu bleiben, anstatt aus einem emotionalen Empfinden heraus aggressive Verurteilungen und Angriffe auf wen auch immer zu starten. Völlig losgelöst davon, ob sie es verdient hätten.

Liebe Grüße,

Melvin

Hinterlasse einen Kommentar

Dein Kommentar:

Kategorien